Das System oder: Warum 'Bunker' Oliveiras Meisterwerk war
Von Kathrin Brunner-Schwer
Systeme sind praktisch. Sie helfen dem Menschen beim Lernen, beim Verstehen, bei der Umsetzung von Abläufen. Systeme erleichtern dem Menschen das Leben. Dem Pferd aber erschweren sie das Leben. Systeme behindern das Pferd, zwängen es ein. Es stellt sich die Frage: Käme der Reiter ohne starres System weiter?
„Der Ecuyer (der Reiter), der wahre, ist keinem System oder irgendeinem Regelment unterworfen, er muß wissen, dass verschiedenste Wege alle nach Rom führen können“, schreibt Nuno Oliveira in seinem Buch „Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden“ (Olms Presse 1996). „Ausbildungs-Skala“, „Schematik“ oder „Methode“ - Oliveira folgte nie einem System, so wie es in Mitteleuropa gerne propagiert wird. Und kritisierte sogar diejenigen, die von seiner Methode als „Oliveira-Methode“ sprachen: „Ich habe keine Methode und es existiert kein Oliverismus!“ betonte er immer, „denn jedes Pferd ist ein Fall für sich.“ Eine Einstellung, die im übrigen auch Luis Valença, Portugals großer Reitmeister aus Vila Franca de Xira, vertritt. „In dem Moment, wo der Reiter auf irgendeinem System beharrt, hat ein Pferd schon verloren“, sagte Luis einmal zu mir, „denn dann beginnt der Zwang. Und Zwang ist genau das, was wir nicht wollen.“
Nuno Oliveira folgte bei seiner Arbeit mit den Pferden keinem System, aber natürlich folgte er klassischen Regeln und Prinzipien. Seine waren folgende: gerade, vorwärts, leicht, Balance und Schwung. Ungeheuer belesen in der gesamten Reitliteratur der letzten Jahrhunderte nahm er aus jedem Werk der alten Meister das, was ihm selbst plausibel erschien. Statt mit System ritt er mit Logik: Er folgte der Psycho- und Physiologik des Pferdes. Dabei forderte er viel von seinen Pferden, ohne sie jedoch zu überfordern oder sie zu zwingen. Sue Oliveira sagte immer: „Mein Schwiegervater verhandelte mit seinen Pferden, er überzeugte sie von seiner Sache und formte sie“.
Ein von Nuno Oliveira durch und durch überzeugtes und geformtes Pferd war sein legendärer Budjonny-Hengst Bunker. Der im Vergleich zu Lusitanos große, lange und hagere Fuchs mit der markanten Blesse verbrachte seinen Lebensabend auf meiner damaligen Reitanlage im Südwesten Deutschlands nahe Baden-Baden. Nunos Enkel Gonçalo Oliveira hatte ihn von seinem Großvater geerbt und aus Portugal mitgebracht. Bunker war alles andere als eine Schönheit: steile Schulter, steile Hinterhand, langer Rücken, dünner Hals, großer Kopf und alles in allem ein eher schlaksiger Typ. Im Umgang war Bunker extrem hengstig, man musste ständig auf der Hut sein, vor allem wenn andere Pferde in der Nähe waren – und das läßt sich auf einer Reitanlage kaum vermeiden. Als wir ihn 1996 auf die Eurocheval nach Offenburg mitnahmen, wo Gonçalo eine Vorführung reiten sollte, zerlegte der Hengst zweimal seine Box, so dass die Messehalle für den Publikumsverkehr gesperrt werden musste.
Aber geritten … geritten war dieses Pferd eine Offenbarung! Bunker war die Essenz all dessen, was Nuno Oliveira jemals geschrieben, gelehrt und praktiziert hatte. Bunker war Nuno Oliveiras Meisterwerk.
Der Budjonny-Hengst konnte alles: Schulschritt, Spanischer Schritt, Spanischer Trab, endlose Einerwechsel im Galopp, Pirouetten auf der Fläche eines Suppentellers, Passage und Piaffe wie aus dem Bilderbuch, Zickzack-Traversalen in vollendeter Passage. Zudem schien Bunker - trotz seines wirklich unvorteilhaften Gebäudes - die Arbeit auch noch Freude zu bereiten. Ich durfte ihn reiten und hatte dabei jedesmal das Gefühl, dass etwas in ihm vibrierte, er schien stolz zu sein. Andere Pferde in der Reitbahn und sogar Stuten interessierten ihn dann überhaupt nicht mehr. Dazu kam: Bunker war der beste Reitlehrer der Welt. Zuviel Hand, zuviel Bein, eine falsche Gewichtung vom Reiter – und Bunker gab zu verstehen „so funktioniert das nicht. Ich weiß zwar, was du willst, aber ich mach's trotzdem nicht. Denn du machst da oben viel zu viel.“
Bunker war 15 Jahre alt, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Und diesem 15-jährigen Pferd tat nichts weh. Er lahmte nie, er zeigte nirgendwo eine Steifheit oder irgendeine Art von Verschleiß. Das einzige, was man bei Bunker als Reiter in der Hand fühlte, war das Gewicht der Lederzügel, sonst nichts. Nuno Oliveira hatte den jungen Budjonny-Hengst in Belgien gekauft. „Alle, die damals Zeugen der Wahl meines Großvaters waren, trauten ihren Augen nicht, als er sagte, er wolle genau dieses Pferd“, erzählt Nunos Enkel Gonçalo, „es wurde hinter vorgehaltener Hand über ihn getuschelt, dieser Mann würde ja so gar nichts von Pferden verstehen, dass er gerade dieses steife Jungpferd haben wollte!“ Und so wurde dieses Pferd zum lebenden Beweis für Oliveiras (auch in seinen Büchern immer wiederholten) Behauptung, dass Systeme beim Reiten nicht existieren sollten. Gonçalo: „Mein Großvater arbeitete bei Bunker mehr als bei anderen Pferden nach Baucher's Prinzip der Flexionen, also der Beugung und Dehnung. Er arbeitete Bunker nicht nach einem System, sondern nach dem, was das Pferd brauchte. In jeder Sekunde, bei jeder gymnastizierenden Übung, jederzeit.“ Und auch Gonçalo, der seit einigen Jahren in der Nähe von Mailand lebt, Reitschüler unterrichtet und Pferde ausbildet, sagt: „In dem Moment, wo ein Reiter systematisch vorgehen will, hat er schon verloren. Denn dann rennt er gegen eine Wand aus Stein“.
„Heutzutage betrachtet man mit Verachtung bestimmte, in ihrem Körperbau auf den ersten Blick weniger gut ausgestattete Pferde (...) und lehnt sie ab. Man kennt ein System, man möchte es bei einem Pferd anwenden, welches 'unverzichtbare' Qualitäten in sich zu vereinen scheint. Wenn aber ein Reiter sein Pferd zu lieben und dessen Vermögen zu verwerten weiß, wenn er sich auf alles, was die wahren Reiter während der Jahrhunderte geschrieben haben stützt, (…) wird er feststellen, dass viele dieser Pferde, welche man für schlecht hält, sich großartig verbessern und zuweilen wirklich gut werden“.
Nuno Oliveira, „Ratschläge eines alten Reiters an junge Reiter“, Olms Presse 1999