Über die Psyche des Pferdes, die wir niemals erfassen können
Foto by kbs
Von Kathrin Brunner-Schwer
Dies ist die Geschichte eines sogenannten „Problempferdes“. Ein Paradebeispiel dafür, was dabei heraus kommen kann, wenn man ganz einfach Zeit investiert. Ein Paradebeispiel aber auch für die Tatsache, dass die Pferdepsyche unendlich viel komplexer ist, als wir uns jemals vorstellen können: Eine Geschichte, die Staunen macht.
Es war im Mai 1997 auf der Reitanlage von Luis Valenças „Centro Equestre da Leziria Grande“ in Vila Franca de Xira nördlich von Lissabon. Da stand er. Schwarz, dünn und kaum bemuskelt, ewig lange Beine. Mit einem braunen und einem blauen Auge, ein bißchen wie David Bowie. Er stand mitten auf dem Weg vor dem Eingang der Reithalle. Ilidio Simão, einer der jungen Bereiter von Valença, hatte ihn am Strick. Unter seinen schwarzen Locken schaute mir der junge Hengst unverholen ins Gesicht und fixierte meinen Blick. Das war's – Liebe.
Sein Name war „Judas“ (sprich „Schudasch“), er war fünf Jahre alt und gerade angeritten. Ich fragte Luis nach diesem Pferd. Er erzählte mir, dass er Judas nach England verkauft hatte und dass die Leute ihn nach zwei Monaten wieder zurückgegeben hatten, weil sie plötzlich festgestellt hätten, dass sie mit ihm nicht züchten konnten: In seinen Papieren steht „Cruzado Portugues“. Judas war zwar ein reiner Lusitano, nur war seine Mutter nicht als Zuchtstute eingetragen – deshalb fungierte er als „Cruzado“. Heute frage ich mich, wenn die Engländer mit ihm hatten züchten wollen, warum haben sie nicht vor dem Transport nach Großbritannien einen Blick in die Papiere mit seiner Abstammung geworfen? Merkwürdig.
Noch am selben Tag schaute ich zu, wie Ilidio in der kleinen Stierkampfarena des Centro Equestre Judas' Cowsense testen sollte: Ein junger Stier wurde herein gelassen... und Judas griff unmittelbar an. Ilidio, der ein hervorragender Reiter war, wurde bleich im Gesicht, denn er konnte den Schwarzen nicht wirklich kontrollieren, weil er noch keine Zügelhilfen kannte. Warum dieser Test? Der berühmte spanische Stierkämpfer, Stierzüchter und Sherry-Unternehmer Álvaro Domecq hatte ein Auge auf Judas geworfen und Luis gebeten, den Cowsense des jungen Hengstes zu testen.
Am Abend desselben Tages zuhause im Wohnzimmer der Valenças beobachtete mich Luis unentwegt. „Du bist so still, du bist verliebt“, lachte er schließlich und konstatierte: "Judas, nicht wahr?". Ich gab es zu und er sagte: „Ich möchte nicht, dass Judas zu Domecq geht. Nimm du ihn“. Und machte mir einen Preis für das Pferd, der einem Geschenk glich.
Der portugiesische Reitmeister machte mich allerdings noch auf etwas aufmerksam: Judas hatte extrem viel Veiga-Blut. Lusitanos aus der Zuchtlinie von Manuel Veiga gelten als besonders talentierte Stierkampf-Pferde. Mit ihrem konvexen Profil und dem sehr kompakten Körperbau entsprechen sie dem barocken Lusitano. Sie sind mutig und extrem auf den Menschen bezogen. Vor 25 Jahren galten sie als besonders schwierig – zu viel Inzucht hatte der Linie geschadet (das ist mittlerweile nicht mehr der Fall). Auch Judas war stark „ingezüchtet“: Seine Großväter mütterlicher- und väterlicherseits waren ein und derselbe Hengst: „Maravilha“, eine schwarze Stierkampflegende.
Einen Monat später kam Judas zusammen mit meinem Vollblutaraber Graminho, den ich von Luis' Tochter Luisa gekauft hatte, von Portugal ins Elsass, wo ich Anfang der 1990er Jahre meine kleine Lusitanozucht hatte. Judas benahm sich gut, lernte schnell und war im wahrsten Sinn des Wortes darauf erpicht, Freude zu bereiten. Mittlerweile nannte ich ihn „Juju“ (sprich „Schuschu“).
Alles war gut, bis wir in meine Reitanlage ars lusitana bei Rastatt umzogen. Mit Nuno Oliveiras Enkel Gonçalo Oliveira an meiner Seite und der väterlichen Hilfe von Luis standen in kürzester Zeit insgesamt 12 Hengste auf der Anlage, die Gonçalo ausbildete. Juju war einer von ihnen... und das (davon bin ich rückblickend überzeugt) gefiel ihm nicht... und ich erkannte es nicht. Obwohl er wie alle anderen Hengste jeden Tag ausreichend Koppelgang bekam und seine große Box in der Regel nur nachts bewohnte. Innerhalb kurzer Zeit wurde Juju zunehmend schwierig. Es fing damit an, dass er sich plötzlich nicht mehr longieren ließ. Sobald man ihn an der Longe auf die Zirkellinie schickte, legte er sich hin und blieb liegen. Er stand zwar wieder auf, wenn man es ihm sagte. Doch sobald man ihn wieder longieren wollte, lag er wieder. Beim Reiten wurde er zunehmend mißmutiger, ließ sich nicht mehr biegen und fing an mit Headshaking. Das Schlimmste war der Galopp: Es wurde lebensgefährlich, ihn zu galoppieren. Er ging regelmäßig durch, in der Halle, im Gelände, auf dem Platz. Mein schöner Juju wurde unreitbar. Überflüssig zu erwähnen, wieviele Tierärzte, Osteopathen und Heilpraktiker ich wegen Juju auf meinem Hof hatte – kein einziger konnte eine physische Ursache bei ihm finden. Zum Schluß sagte mir eine Kapazität auf dem Gebiet des Bewegungsapparats: „Eindeutig Kissing Spine. Vergessen Sie das Pferd“.
Einige Monate nach dieser verheerenden Diagnose (Juju verbrachte seine Tage auf der Koppel) nahm sich meine Freundin Regina meinem Pferd an. Meine Verzweiflung war groß – ihre Zuversicht aber größer. Sie ritt Juju zweimal die Woche 20 Minuten nur im Schritt, einfach geradeaus, ohne etwas zu verlangen. Und zwar ein ganzes Jahr lang. Wenn sie keine Zeit hatte, tat ich es. Wir wollten nicht aufgeben und hatten uns abgesprochen, dass wir einen kompletten „Reset“ versuchen wollten. Schließlich fingen wir mit der Gymnastizierung an: Schulterherein, Travers etc. - aber immer nur 20 Minuten. In kürzester Zeit setzte er wieder Muskulatur an, von Headshaking und Kissing Spine war keine Rede mehr. Erst nach einem weiteren halben Jahr begannen wir mit der Galopparbeit... und es gab nicht das geringste Problem mehr. Im Gegenteil: Zusammen mit Sue Oliveira begann ich, Juju sogar das Terre-à-Terre (Galopp auf der Stelle) beizubringen. Übungen aus der Working Equitation, einhändig mit der Stange, machten ihm besonderen Spaß. Und er wurde mein bestes Schulpferd.
Juju wurde 26 Jahre alt und lebte die letzten vier Jahre bei mir zuhause in Offenstallhaltung. Er spielte „Stierkampf“ mit meinen Hunden, betreute seinen kleinen Esel Doudou und galoppierte mit mir auf meinem 12 mal 25-Meter großen Reitplatz. Nachdem sein bester Freund, mein legendärer Araberhengst Graminho am 2. Juni 2017 im Alter von 29 Jahren aufgrund einer massiven Aortaklappen-Insuffizienz über den Regenbogen ging, folgte Juju im keine acht Wochen später am 31. August. Für mich unvermittelt, auf den ersten Blick unerklärbar (auch für die behandelten Tierärzte). Seltsam: nachdem Graminho gegangen war, verfiel Juju zusehends. Obwohl er weiterhin gut fraß und mit seinem Esel spielte...
Was ich mit dieser Geschichte sagen möchte? Die Psyche des Pferdes ist unendlich viel komplexer, als wir Menschen es jemals verstehen können. Sich dieser Tatsache jeden Tag, in jedem Moment im Umgang mit dem Pferd bewußt zu sein und ihr gerecht zu werden... ist die allergrößte Herausforderung, die es gibt.
Es ist nicht die Uhr, welche die Dauer einer Stunde bestimmt (…). Die Ausbildung eines Pferdes verlangt ein gerüttelt Maß an Überlegung seitens des Reiters, Überlegung, gefolgt von genauester Beobachtung des körperlichen und seelischen Zustandes des Pferdes, um festzustellen, woher bestimmt Widerstände stammen.
Nuno Oliveira in „Erinnerungen eines portugiesischen Reiters“, Olms Presse, 2000