Schulterherein macht glücklich
Die Seitengänge bei Nuno Oliveira
(erschienen in "Feine Hilfen" Nr. 51 Februar/März 2022)
von Kathrin Brunner-Schwer
Die Seitengänge waren für Nuno Oliveira der ultimative Weg zur Losgelassenheit. Er betrachtete Schulterherein und Traversarbeit als „unverzichtbare“ Mittel der Gymnastizierung. Er sprach dabei von der „Geschmeidigmachung“ und setzte Seitengänge vornehmlich zur Lockerung des Pferdes ein.
Seitengänge waren für Nuno Oliveira (1925 – 1989) unbedingte Grundlagen guter Dressurarbeit. Schon vor dem Einreiten brachte er den jungen Pferden die ersten Seitwärtstritte am Boden bei. Dreh- und Angelpunkt seiner Gymnastizierung mittels der Seitengänge war das Schulterherein, sein Mittel der Wahl für die Lockerung der Wirbelsäule, für die Geraderichtung, für Versammlung und das „runden“ des Pferdes, wie seine Schwiegertochter Sue Oliveira (1950 – 2007) ihn immer zitierte. Allerdings möchte ich an dieser Stelle gleich zu Anfang etwas klar stellen. Beim Thema Seitengänge und Nuno Oliveira existiert eine Art Zerrbild des portugiesischen Reitmeisters, das wohl auf die mangelhaften Archiv-Filmschnipsel zurückzuführen ist, die im Internet grassieren: Nuno Oliveira ist dort sehr oft nur in Seitengängen zu sehen. Was eben nicht zu sehen ist: Zwischen den einzelnen Reprisen der Seitengänge ließ es seine Pferde immer wieder in Dehnungshaltung gehen, wobei er sehr genau auf die Geraderichtung achtete. Er erwähnt dies auch immer wieder in seinen Büchern, allerdings nur in Nebensätzen, weil er das als eine Selbstverständlichkeit erachtete. Auch Sue Oliveira ließ ihre Schüler zwischendrin immer wieder in Dehnungshaltung reiten – Schritt, Trab und Galopp.
Schulterherein als Schlüssellektion
„Stets, gewiss und auf jeden Fall beginne ich die Ausbildung eines Pferdes mit keiner anderen Übung als mit Schulterherein“, schreibt Nuno Oliveira in „Gedanken über die Reitkunst“ (Olms Verlag 1999). Er folgte damit François Robichon de la Guérinière (1688–1751), dem die Erfindung der Schulterherein nachgesagt wird und von dem das folgende Zitat stammt: „Das Schulterherein ist die erste und die letzte Schule, in der man ein Pferd unterrichten muss.“
Das Schulterherein betrachtete Nuno Oliveira als die Schlüssellektion schlechthin. Allerdings: Während die Deutsche Reitlehre das Schulterherein nur auf drei Hufpisten und mit einer Abstellung von etwa 30 Grad lehrt (wobei die Hinterfüße parallel spuren und nur die Vorderfüße kreuzen), ritt Nuno Oliveira diese Übung auf vier Hufpisten und mit einer Abstellung von 45 Grad. Das hat zur Folge, dass sich die Hinterhand senkt, weil das jeweilige hintere Innenbein des Pferdes sowohl kreuzt als auch nach vorne tritt. Das innere Hinterbein des Pferdes tritt also in Richtung eines gedachten „X“ in der Mitte des Pferdebauchs – es nimmt vermehrt Gewicht auf, und zwar erheblich mehr als bei der Abstellung in der Deutschen Reitlehre. Dabei nimmt man die Schultern des Pferdes deutlich weg von der Wand. In „Zuhause bei Nuno Oliveira“ (Olms Verlag 2007) zitiert ihn Eleanor Russell: „... es sollte 'Schulternherein' heißen, nicht 'Schulterherein', weil beide Schultern innen sind, die eine ein bisschen mehr als die andere“ - die Folge der 45 Grad Abstellung.
Und so lehrte Nuno Oliveira das Schulterherein (hier das Beispiel auf der linken Hand). Sein oberstes Prinzip dabei: innerer Schenkel und äußerer Zügel.
Weil die Schultern des Reiters oder der Reiterin immer parallel zu den Schultern des Pferdes sein sollten, nimmt man die innere, linke Schulter leicht zurück. Prinzipiell gilt: Die innere Schulter ersetzt den inneren Zügel. Ist sie zurück, braucht man man wesentlich weniger inneren Zügel;
Das innere Bein liegt locker vorne am Sattelgurt (Stichwort „das Pferd ist um den inneren Schenkel geborgen“), das äußere Bein liegt leicht zurück;
Der innere Zügel ist leicht geöffnet und locker, der äußere Zügel begrenzt und kontrolliert; um die Schultern des Pferdes von der Bande weg zu führen, nimmt man beide Hände kurz nach innen (in dem Fall nach links): Der äußere Zügel bringt so die Schultern herein. Dann nimmt man die Hände sofort wieder in die normale Stellung. Der Hals des Pferdes ist nur minimal nach innen gebogen;
Wenn man mit dem äußeren Zügel die Schultern des Pferdes „herein“ genommen hat, hält man die Hinterhand mit dem Sitz auf dem Hufschlag. So verhindert man das Abdriften des Pferdes nach innen;
Das innere Bein des Reiters oder der Reiterin gibt – aber nur wenn nötig – einen treibenden Impuls, das äußere Bein begrenzt lediglich;
Man bleibt unbedingt in der Mitte des Pferdes sitzen. Jede Gewichtsverlagerung bringt das Pferd aus dem Gleichgewicht, es fällt dann entweder auf die innere oder die äußere Schulter. Ausnahme: Beim jungen Pferd, das das Schulterherein lernen soll, darf man sein Gewicht maximal um ein Pfund Butter in den äußeren Steigbügel verlagern;
Der Schritt des Pferdes sollte langsam und in einem gleichmäßigen Takt sein, weil es so vor allem die Hinterbeine besser kreuzen und nach vorne setzen, will heißen Gewicht aufnehmen kann. Das Gleiche gilt im Trab. Im Trab ist der Takt essentiell für ein gelungenes Schulterherein;
Besonders wichtig bei Schulterherein ist die Vorbereitung: Man reitet das Pferd unbedingt und korrekt in die Ecke, um die auf diese Weise „gewonnene“ Biegung mitzunehmen. Ein berühmtes Zitat von Nuno Oliveira: „Jede Ecke ist eine kleine Schulterherein“. Es ist sehr viel Wahres daran: Allein beim Durchqueren der (gut ausgerittenen) Ecke setzt das Pferd sein inneres Hinterbein bereits mehr unter.
Wer Schulterherein auf diese Art reitet, wird sehr schnell bemerken, wie das Pferd plötzlich leicht wird in der Hand, wie es sich zunehmend konzentriert. Später kann man diese Konzentration überprüfen, indem man zuerst ein descente de main (das Fallenlassen der Hand) mit dem inneren Zügel anbietet und deutlich mit der Hand nachgibt – zunächst nur ein paar Tritte. Wenn das Pferd dann in der perfekten Haltung bleibt, kann man auch mit dem äußeren Zügel nachgeben. Nuno Oliveira überprüfte die Schulterherein außerdem noch gerne, indem er in Schulterherein anhielt und wieder anritt. Oder (und das ist wirklich schwer): Man reitet ein Schulterherein an der langen Seite, bei deren Hälfte man eine große Volte einlegt, um dann den Rest der langen Seite wieder in Schulterherein zu absolvieren. Klappt diese große Volte, ohne dass das Pferd schief wird, schwankt oder aus dem Takt kommt... dann ist man Schulterherein-Weltmeister. Und das Pferd in absolutem Gleichgewicht.
Nur: Was sich so einfach liest, ist meiner Erfahrung nach in der Regel schwierig, umzusetzen. Entweder, weil man es falsch gelernt hat, oder weil man unwillkürlich versucht, beim Schulterherein die Hinterhand des Pferdes mit dem inneren Schenkel nach hinten gelegt in Richtung Bande zu drücken während man am inneren Zügel zieht – was natürlich unmöglich funktionieren kann. Viele Reiterinnen und Reiter sitzen dann auch noch nach innen, um ihr Pferd „rauszudrücken“ und ziehen dabei meistens das innere Knie hoch. Doch wie will man 500 Kilogramm Lebendgewicht „rausdrücken“? Das könnte nicht mal Arnold Schwarzenegger, wie Sue Oliveira immer wieder trocken kommentierte. In Folge dessen verwirft sich das Pferd und wird verkrampft versuchen, irgendwie seitlich zu gehen. So bitte nicht! Beim Schulterherein auf vier Hufpisten geht es um die „Lenkung“ der Pferdeschultern. Die müssen weg von der Bande.
Wie enorm wichtig dem portugiesischen Reitmeister das Schulterherein war, machte er in seinen Schriften unmissverständlich klar und griff dabei auch zu ziemlich drastischen Worten. Eleanor Russel zitiert ihn wörtlich folgendermaßen: „Sehen Sie sich das so genannte Schulterherein an, wie man es oft sieht, bei welchem der Reiter am inneren Zügel zieht, nach innen hängt, den Schenkel zurückzieht, um dem armen Tier den Sporn zu geben, der es zwingt, sich so verdreht zu bewegen. (…) Ich würde das schlecht ausgeführte Verrenkungen nennen, und es wäre besser, diese schlechten Verrenkungen überhaupt nicht zu reiten.“
Erst nachdem das Pferd Schulterherein (und natürlich auch Konterschulterherein) beherrscht, ging Nuno Oliveira zur Traversarbeit über. Das Prinzip ist logisch: Durch die Arbeit in Schulterherein hat das Pferd gelernt, sich um den inneren Schenkel zu biegen und ihn zusammen mit dem äußeren Zügel anzunehmen. Die Hilfen sind ähnlich wie beim Schulterherein, nur dass der innere Zügel nicht offen sondern eher zu ist, will heißen, er kann sich auch mal in Richtung des äußeren Zügels bewegen, um die Stellung des Pferdehalses zu korrigieren. Der äußere Zügel wiederum „lenkt“ die Pferdeschultern, indem er kurz nach innen genommen wird, um die Schultern in Richtung des Travers zu stellen. Nuno Oliveira pries den Wechsel zwischen Schulterherein, Konterschulterherein, Traversalen, Travers und Renvers immer wieder an, weil sie „das Pferd entspannen und aufnahmefähiger machen“. „Je mehr man sie reitet, desto leichter wird das Pferd und desto besser versammelt es sich“, zitiert ihn Eleanor Russell. Man müsste noch hinzufügen: „Desto williger konzentriert es sich“. Und desto glücklicher wird der Mensch obendrauf. Fakt.
(Foto: Evi Kuenstle)