Sue Oliveira: Eine Hommage
Sue Oliveira auf Bariton. Foto: Familienarchiv Oliveira
Von Kathrin Brunner-Schwer
Reiten
lernen wird heutzutage unterschätzt. Der extrem komplexe Prozess
dieses Lernvorgangs leidet unter dem Pragmatismus unserer
leistungsorientierten Gesellschaft. Alles muss schnell gehen.
Effizient sein. Immerhin bezahlt der Reitschüler ja dafür. Dabei
ist Reiten lernen einer der langwierigsten und schwierigsten
Prozesse, die man im Leben absolvieren kann. Er führt in viele Sackgassen und endet nie. Und der
Reitlehrer ist die Schlüsselfigur in diesem Prozess. Ich möchte hier von einer ganz besonderen Reitlehrerin erzählen, einer Frau, die im Leben von sehr vielen Reitern... alles veränderte: Sue Oliveira. Eine Hommage.
Der Reitlehrer ist die einflussreichste und wichtigste Person im Leben eines Reitschülers. Er ist mehr als nur „die halbe Miete“ - er ist die ganze. Er ist der Mediator zwischen Reiter und Pferd. Denn Reiten ist viel mehr als bloße Körperbeherrschung und Know-how. Reiten ist kein Sport. Reiten ist die komplexe Kommunikation mit einem Lebewesen, das es zu verstehen und zu erfühlen gilt. Und das ein Recht darauf hat, verstanden und erfühlt zu werden. Ein Pferd hat exakt dieselben Befindlichkeiten wie ein Mensch. Es versteht oder versteht nicht. Es kann sich gut oder es kann sich schlecht fühlen – genau wie ein Mensch. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, als es ohnehin schon ist: Pferde sind viel sensibler als Menschen. Sie spiegeln direkt, unmittelbar und schnörkellos die physische und psychische Verfassung ihres Reiters wieder. Ein erfahrener Reitlehrer erkennt eben diese Befindlichkeiten sowohl beim Reiter als auch beim Pferd. Oft reicht ihm sogar allein der Blick auf das Pferd, um Rückschlüsse auf die Befindlichkeit seines Schülers zu machen. Jahrzehnte lang habe ich bei Dutzenden von Reitlehrern gelernt. Bis ich den einen, genauer gesagt die eine fand, die alles änderte. Und zwar so fundamental, dass ich quasi bei Null wieder anfangen musste und auch wollte: Sue Oliveira. Sie stellte mich komplett auf den Kopf, schüttelte mich durch und setzte alles nach und nach neu zusammen.
Zu Sue Oliveira kamen Reitschüler, die auf der Suche waren. Die das „Vorne ziehen, hinten treiben“ überdrüssig hatten und wissen wollten, wovon Nuno Oliveira in seinen Büchern sprach. Immer wieder gefragt, wo denn der Unterschied liege zwischen modernem Dressursport und den klassischen Prinzipien, antwortete sie jedes Mal mit folgendem Vergleich: „Das eine ist Bodenturnen, das andere Ballett.“
Sue Oliveira unterrichtete derart logisch und eindrücklich, dass ich sie noch heute sprechen höre, wenn ich auf einem Pferd sitze. Sie konnte sowohl beruhigen als auch anfeuern und brachte nie Verwirrung in eine Stunde. Jeder ihrer Reitschüler vertraute ihr in kürzester Zeit hundertprozentig, sie ließ niemanden allein, auch nicht für eine Minute. Sie verstand es, gekonnt zu loben, zu ermutigen oder auch zu kritisieren, ohne dass man sich angegriffen fühlte. Ihre Erklärungen waren immer plakativ. Sie wußte die Lösung für alle Probleme, ohne Schüler und Pferd den Eindruck zu geben, dass einer von beiden untalentiert ist. Und hatte sie wiederum den Eindruck, dass ein Schüler nicht wirklich verstehen wollte, dann erklärte sie pragmatisch und direkt: „Dein Pferd muss jetzt da durch, weil du es bis dato falsch gemacht hast“. Ganz zu schweigen von den Momenten, in denen sie sich selbst auf das Pferd des Reitschülers setzte, um Probleme zu lösen. Jedesmal weiteten sich die Augen der Pferdebesitzer vor Staunen, wie sich ihre Pferde unter Sue verwandelten. Wenn sie sie dann fragten „Sue, wie machst du das nur?“ antwortete sie stets: „Das ist Jahrzehnte lange Erfahrung. Die Légèreté kommt nicht von alleine. Sie ist das Ergebnis von viel Arbeit und noch mehr Geduld – für den Reiter“.
Und noch etwas zeichnete Sue Oliveira als kluge Lehrerin aus: Sie beendete die Stunden immer, wenn etwas richtig gut geklappt hatte. Anfangs dachte ich, sie tue das für das jeweilige Pferd. Denn man sollte eine Arbeitseinheit immer beenden, wenn eine Korrektur oder eine neue Trainingsaufgabe vom Pferd verstanden wurde. Loben und sofortiges Absitzen sind ungeheuer effizient, damit das Pferd am nächsten Tag den Gang in die Reithalle mit etwas Positivem assoziiert. Sue tat das aber auch für den Reitschüler. Weil sie genau wußte, dass zum Beispiel nach dem allerersten fliegenden Galoppwechsel eine Wiederholung desselben unmittelbar im Anschluß garantiert in die Hose geht. Nicht unbedingt, weil es das Pferd nicht konnte. Sondern weil die Erwartungshaltung des freudig erregten Reitschülers nach diesem ersten Erfolg ins Unermessliche steigt – und damit ein „fail“ vorprogrammiert ist. So freute man sich einfach auf die nächste Reitstunde, nachdem man eine Nacht darüber schlafen konnte. Das war klug von ihr.
Nuno Oliveira schreibt: „Um zu erreichen, dass der Schüler dieses oder jenes bei seinem Pferd erreicht, muß man zunächst seine Fähigkeiten beurteilen können, den besten Weg finden, sich ihm verständlich zu machen und den besten Weg, damit er sich seinem Pferd verständlich machen kann“ (aus „Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden“, Olms Presse 1996). Vor allem, „sich verständlich machen“. Daran hapert es oft innerhalb der Kommunikation von Schüler und Lehrer. Dann endet das Ganze schnell in Überforderung. Man kommt nicht mehr mit. Zu schnell. Zu viel. Zu wenig erklärt. Daraus resultiert in Folge oft ein Mangel an Wertschätzung. Wer das nicht für sich spürt, kann das auch nicht an sein Pferd weitergeben. Deshalb ist es auch die Aufgabe eines Reitlehrers, für diese Wertschätzung zu sorgen.
Allerdings ist ein solcher Reitlehrer auch Bildermaler, Interviewer und Feinmechaniker.
Wieso?
Der Bildermaler
Wenn ein Reitschüler etwas nicht begreift, liegt es an der Erklärung des Reitlehrers und nicht am Schüler. Es ist allein Aufgabe des Lehrers herauszufinden, auf welche Weise er den Schüler/die Schülerin erreicht. Bilder helfen immer. Beispiel: Der Reiter/die Reiterin soll gerade sitzen, ohne dass er oder sie sich zu sehr nach hinten oder nach vorne lehnt. Deshalb soll er oder sie sich eine Verbindung von seinem Bauchnabel und dem Mittelpunkt zwischen den Ohren des Pferdes vorstellen. Ich benutze dabei gerne folgende Version: „Dein Bauchnabel ist gepierct und an diesem Piercing ist ein Drahtseil angebracht, das deinen Nabel mit dem Punkt zwischen den Pferdeohren verbindet. Fällst du mit dem Oberkörper zu sehr nach vorne oder nach hinten ...“ - den Rest überlasse ich der Vorstellungskraft. Oder ein anderes Bild gegen die verdeckte Reiterhand: „Stell dir vor, du hast zwei brennende Kerzen in jeder Faust. Kippst du die Fäuste nach vorne, riskierst du, die Haare Deines Pferdes in Brand zu setzen“. Ich weiß, das ist drastisch. Aber es hilft. Das Copyright dafür liegt übrigens bei Sue Oliveira.
Der Interviewer
Den vorangegangenen Erklärungen sollten Fragen folgen. Ein Reitlehrer muss den Schüler/die Schülerin interviewen können. Die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt beziehen den Schüler/die Schülerin mit ein und lassen ihn oder sie nicht allein. „War diese Traversale jetzt korrekt? Wie hat sich der Galoppwechsel angefühlt, woran könnte es liegen, dass dein Pferd nur mit der Vorhand umgesprungen ist?“ Die Suche nach der Antwort festigt die Erkenntnis. Immer.
Der Feinmechaniker
Der Reitlehrer muss die allerkleinsten Fehler erkennen und justieren können. Wenn ein Pferd auf seiner (je nach Größe) fünf bis zehn Quadratmeter umfassenden Haut eine einzige Fliege ausmachen und abschütteln kann – wie sehr bemerkt es erst, wenn zum Beispiel eine Reiterin im Sattel zu sehr nach rechts hängt. Das habe ich erst neulich wieder im Video von der Reitstunde eines derzeit hoch gepriesenen Reitlehrer-Gurus beobachtet. Er wollte, dass das Pferd der Schülerin sein linkes Hinterbein mehr untersetzt und korrigierte sie auf alle möglichen Weisen. Ohne dabei zu bemerken, dass das Mädchen rechts runterhing und sich das Pferd natürlich auszubalancieren versuchte und hinten rechts mehr untertrat als hinten links. Mit Sicherheit war die Reiterin es auch so gewöhnt. Deshalb liegt hier eine besondere Herausforderung für den Reitlehrer: Er muss den Schüler/die Schülerin neu justieren und alte Muster ausmerzen. Und das ist richtig schwer. Nicht für den Reitlehrer, sondern für den Schüler.
Sue Oliveira war all dies in Personalunion. Sie hat mich zutiefst geprägt. Sie starb viel zu früh am 11. September 2007. Trotzdem ist sie an meiner Seite und begleitet mich zu allen Kursen und Reitstunden.