Das Pferd ist ein Tänzer an Deiner Hand
Haben Sie Ihr Pferd schon einmal dabei beobachtet, wie es gutgelaunt auf der Koppel mit den anderen spielt und dabei „eine Show abzieht“? Wie es sich im Spiel aufrichtet? Wie es sich raumgreifend bewegt und dabei den Rücken wölbt? Kurz: wie es Schwung zeigt? Nein? Achten Sie einmal darauf. Denn: der Schwung ist der Spiegel der Psyche des Pferdes.
Schwung ist das Fundament, auf dem alles aufbaut. Schwung kommt aus der Hinterhand: Wenn die Tritte kraftvoller werden, können die Hinterbeine vermehrt Gewicht aufnehmen; die Schubkraft erhöht sich, das Pferd kann sich leichter ausbalancieren. Die Energie, die das Pferd durch einen erhöhten Schwung entwickelt, macht alles einfacher: Sie führt zu mehr Spannkraft und zwar sowohl im Schritt als auch im Trab und im Galopp. Diese Energie kann dabei helfen, das Pferd gerade zu richten, sie kann Verspannungen im Pferdekörper lösen und wirkt sich positiv auf Verhaltensprobleme aus. Denn ein schöner Schwung und der damit verbundene Energiefluss ist angenehm für das Pferd, es bekommt Freude an der Bewegung – so wie es umgekehrt beim Spielen auf der Koppel in guter Laune von sich aus „in Schwung kommt“. Ein schwungvolles Pferd ist ein gut gelauntes Pferd. Wie viele Reiter dachten schon insgeheim, wenn sie ihr Pferd beim Freispringen oder beim freien Spielen beobachteten, „wie schön, wenn es das auch beim Reiten zeigen würde“...
Schwung heißt aber nicht Geschwindigkeit. Hier liegt oft der große Fehler. Vermehrt zu treiben um mehr Schwung zu bekommen bewirkt das Gegenteil: Die Tritte werden flacher, das Pferd wird steif, es strampelt, fällt auf die Vorhand und wechselt im schlimmsten Fall in die nächst höhere Gangart, aus der es dann wieder herunter gebremst werden muss. Hier kommt die Kadenz ins Spiel, sie reguliert den Schwung. Die Kadenz ist angeboren, jedes Pferd hat einen gewissen Grad an Kadenz. Sie ist der mit Energie geladene, kraftvolle Takt, der dem Pferd Ausdruck verleiht und die Schwebephasen beeinflusst. Ein Pferd mit einer guten Kadenz wird bei der Aufforderung, mehr Schwung zu zeigen, nicht schneller werden. Deshalb gehören Schwung und Kadenz zusammen wie Butter und Brot.
Ein Pferd muss die Hilfen
des Reiters kennen, bevor es darauf mit Schwung reagieren kann. Viel
zu oft und gerade bei Pferden, die in ihrer Ausbildung noch in die
Grundschule gehen, setzen Reiter Hilfen ein, die ihre Pferde noch gar
nicht hundertprozentig gelernt haben. Solange das Pferd sich noch
nicht wirklich sicher ist, was diese Hilfe bedeutet, reagiert es bloß
darauf, es antwortet nicht. Andererseits muss ein Pferd die Hilfen
auch respektieren. Ein von ständigem Treiben abgestumpftes,
schenkeltotes Pferd wird niemals Schwung zeigen.
Vor Jahren habe ich
einmal einen sehr hübschen schwarzbraunen Spanier geschenkt
bekommen, dessen Besitzer nicht mehr mit ihm zurecht kam. Die (leider relativ vielen) Reiter,
die ihn vorher gearbeitet hatten, hatten ihn vollkommen verdorben: Er
reagierte auf absolut nichts mehr, weder Schenkel noch Gerte noch
Sitz, man musste ihn mit den Sporen traktieren, um ihn überhaupt
vorwärts zu bringen - und das, obwohl er schon sehr weit ausgebildet
war! Manchmal blieb er auch ganz einfach stehen und reagierte auf gar
nichts mehr. Eine tickende Zeitbombe, denn der Hengst hatte immer
wieder versucht, sich auf die anderen Pferde in der Halle zu stürzen.
Meine Lehrerin und Freundin Sue Oliveira, Nuno Oliveiras
Schwiegertochter, hieß mich folgendes zu tun: Ich sollte die Zügel
aus der Hand geben und vor mir auf den Widerrist legen. Dann reichte
sie mir zwei Gerten, eine für jede Hand. Ich sollte völlig
entspannt mit ihm auf dem Hufschlag stehen und ihn einmal mit den
Schenkeln kurz zum Vorwärtsgehen auffordern – was er natürlich
vollkommen ignorierte. Sofort im Anschluss sollte ich mit beiden
Schenkeln und mit beiden Gerten gleichzeitig auffordern und
„Los!“. Mein Spanier schoss auch los, er war vollkommen
überrascht. Nach ein paar Metern Renngalopp lobte ich ihn
überschwänglich und parierte ihn mit der Stimme durch. Das Ganze
mussten wir beide nur noch einmal wiederholen – dann hatte mein
Hübscher begriffen: „Ach so, Schenkel heißt, vorwärts‘!“
Anschließend hatte ich nie wieder Probleme mit ihm, er antwortete auf das leiseste Schenkelsignal und entwickelte einen Schwung, der ganz außerordentlich war für einen Spanier. Mehr noch: Er hörte damit auf, in der Reithalle auf andere Pferde losgehen zu wollen. Wenn ich merkte, dass er mal wieder zu den anderen schielte, forderte ich ein wenig mehr Energie. Dann kehrte seine Konzentration zurück und seine Freude an der Bewegung. Ich rate jedoch: Unternehmen Sie diese Art des „Reset“ bei Ihrem Pferd nicht ohne professionelle Hilfe – es könnte für den Reiter sehr gefährlich werden, zumal Sie die Zügel dabei nicht einsetzen, ja nicht einmal in die Hand nehmen dürfen!
Zum Thema „Hilfen“ für
den Schwung. Nennen wir die sogenannten „Hilfen“ an dieser Stelle
einmal „Stichwörter“. Auf ein Stichwort folgt in der Regel der
Einsatz, nicht wahr? Entsprechend sollten Ihre Hilfen sein: Ein
Stichwort, auf den der Einsatz des Pferdes folgt. Das Pferd ständig
mit Hilfen „zuzuquatschen“ bewirkt, wie bereits erwähnt, dass es
nicht mehr auf seinen Reiter hört. Und das geht schneller, als es
einem lieb ist.
Je besser ein Pferd auf die Hilfen reagiert, umso größer wird sein Schwung. Wenn Sie fühlen, dass Ihr Pferd energielos tritt, fragen Sie mit einem kurzen Schenkelimpuls nach zwei oder drei Tritten vermehrter Energie – um es dann sofort mit dem Sitz und nicht mit den Zügeln (!) abzubremsen. Anders erklärt: Man braucht nur zwei oder drei Schritte im selben Gang, im selben Rhythmus, Tempo und Richtung, um die verlorene Energie wieder herzustellen.
Sie wissen, dass Sie es richtig gemacht haben, wenn:
die Tritte länger und erhabener werden
die Anspannung im Pferdkörper nachlässt
das Pferd gerader wird
das Pferd runder wird
das Pferd herzhaft abschnaubt
Wenn Sie dann absteigen würden, um Ihrem Pferd ins Gesicht zu sehen – dann würden Sie einen besonders lebendigen Ausdruck in seinen Augen finden. Tun Sie das doch mal. Steigen Sie sofort nach der Übung ab und schauen Sie Ihrem Pferd in die Augen. Sie werden staunen, was sie in diesen Augen finden.
"Liebst Du den Tanz? Das Pferd ist ein Tänzer an Deiner Hand, ein Tänzer in die Unendlichkeit. Aus dem Schwung, dem Du ihm mitteilst, folgt die Leichtigkeit, folgt das Schweben. Alle Kraft fühlst Du sich unter Deinem Sattel vereinigen.
Das Land bleibt hinter Dir zurück. Die
Welt fliegt an Dir vorüber. Dein Tänzer trägt Dich davon."
(Rudolf
Georg Binding, deutscher Schriftsteller, 1867 – 1938)