Ballett oder Bodenturnen?
Foto: Ilona Kirsch
Von Kathrin Brunner-Schwer
Anlehnung ja oder nein? Hohe Hand oder tiefe Hand, konstante Verbindung oder durchhängende Zügel, die Zügel als „fünftes Bein“ des Pferdes – Anschauungen, die von Fall zu Fall ihre Berechtigung haben mögen. Die Frage ist doch: Welches Ziel habe ich? Möchte ich hundert Punkte auf einem Turnier dafür, dass mein „Kreuz“, meine Hände und Beine immer ordentlich „dran“ sind? Oder möchte ich, dass sich mein Pferd irgendwann in der perfekten Versammlung schwungvoll selbst trägt – ohne jegliche Einwirkung des Reiters von oben? Letzteres ist das Ziel der klassischen französischen Schule. Es nennt sich „La Descente de Main et de Jambes“.
„La Descente de Main et de Jambes“ kann man im Deutschen etwa mit dem „Sinkenlassen der Hand und der Beine“ übersetzen. Es ist die vollständige Aufgabe der Kontrolle über das Pferd, während es selbstständig weiter arbeitet. In Schritt, Trab oder Galopp, bei den Seitengängen, in der Passage oder der Piaffe senkt der Reiter Unterarme und Hände in Richtung Pferdeschulter, so dass die Zügel durchhängen, die Beine haben keinen Kontakt zum Pferd, es gibt nicht die leiseste Anlehnung – weder am Zügel noch am Bein. Wenn das Pferd dabei in seiner Versammlung bleibt, seinen Takt, die Stellung und den Schwung nicht verliert, dann spricht man von einer „Descente de Main et de Jambes“.
Es ist keine Übung, sondern ein Zustand – der Idealzustand von Leichtigkeit. Und die ist nicht nur die Maßeinheit, wie wenig sich ein Pferd auf den Zügel legt. Leichtigkeit bedeutet auch ein Pferd zu haben, dass schwungvoll und kadenziert mitmacht, ohne dass der Reiter intervenieren muss – sei es mit dem Sitz, der Hand oder dem Bein. Und weil dieser Idealzustand auch durchaus eine Belohnung für das Pferd ist, weil der Reiter ihm nicht ständig mit den Hilfen kommt, lernt es, auf weniger Hilfen feiner zu reagieren. Allerdings begibt sich der Reiter mit der „Descente de Main et de Jambes“ auch in eine sehr verletzbare Position, weil er nicht agiert und somit nicht reagieren kann. Kontroll-Freaks werden ihre Schwierigkeiten damit haben.
Man beginnt zuerst mit der Hand und senkt den inneren Zügel – erst gerade, im Schritt. Bleibt das Pferd bei seinem Reiter, senkt man auch die Hand mit dem äußeren Zügel. Es ist völlig normal, dass das anfangs nur für ein paar Sekunden klappt, bevor sich das Pferd seiner Freiheit bewußt wird oder seine Balance verliert und auseinander fällt. Dann ist es immens wichtig, es mit den Korrekturen nicht zu überfallen, sondern die Zügel sanft wieder aufzunehmen. Doch wenn es vorher – nehmen wir hier als Beispiel ein Schulterherein - korrekt um den inneren Schenkel gebogen ist und am äußeren Zügel steht, werden sich die Intervalle einer „Descente de Main“ verlängern. Anschließend, wenn das Senken beider Hände klappt, folgt die „Descente de Jambes“: die Beine weg vom Pferd. Der Sitz bleibt gerade, die Taille entspannt. Wichtig: man muss fühlen, wenn das Pferd dazu bereit ist, wenn Schwung und Stellung stimmen – um dann vorsichtig und langsam immer mehr loszulassen.
Meiner persönlichen Ansicht nach gibt es noch einen weiteren Aspekt: Das Ganze wirkt sich äußert positiv auf das gegenseitige Vertrauensverhältnis aus. Der Reiter lernt sein Pferd viel besser kennen, er lernt, was er in der Vorbereitung richtig oder falsch gemacht hat wie beispielsweise zu viel oder zu wenig Anlehnung, zu viel oder zu wenig Schwung, zu viel oder zu wenig Stellung. Und das Pferd wiederum lernt, seinem Menschen zu vertrauen, der ihm freie Hand gibt, wenn der perfekte Moment gekommen ist: Es wird sich in ein stolzes Pferd verwandeln, das Freude empfindet – ich erlebe es immer wieder. Insofern ist das Senken von Hand und Beinen vielleicht doch als eine gewisse „Übung“ zu bezeichnen - nämlich als psychologische.
„Das Sinkenlassen von Hand und Bein ist der Prüfstein wahrer Versammlung“ (Nuno Oliveira in „Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden“, Olms Presse 1996). Eins steht fest: mit einer „Descente de Main“ wird man bei einem Turnier nicht mal einen Blumentopf gewinnen. Denn es ist Ballett. Und kein Bodenturnen.