Wenn aus Biegen Brechen wird
Foto: Nico Alexander
Von Kathrin Brunner-Schwer
Jedes Pferd ist schief. Das ist normal und kein Grund zum Drama. Wir Menschen sind es ja auch. Schief meine ich. Mit der richtigen Aufbau-Gymnastik lässt sich die natürliche Schiefe bei einem jungen Pferd schon von Beginn an weitestgehend korrigieren. Die Voraussetzung dafür ist aber das Gleichgewicht des Pferdes in der Horizontalen. Will heißen, dass es gerade geht und sich gleichmäßig ausbalancieren sowie Schubkraft entwickeln kann. Dass sein Hals gut bemuskelt und stabil ist. Denn der hat später großen Anteil an der korrekten Längsbiegung. Ohne Geraderichtung also ist nichts gewonnen. Es gibt keinen Schwung, keine Kadenz, keine Anlehnung und erst recht keine Biegung, von Versammlung ganz zu schweigen. Vor allem dann, wenn die natürliche Schiefe des Pferdes per Biegung ausgemerzt werden soll. Allzu oft wird dann aus dem Biegen ein Brechen.
Wir unterscheiden zwei verschiedene Biegungsebenen: die Längsbiegung und die Biegung (manche nennen es auch „Stellung“ oder „Beugung“) im Genick. Beide sind unmittelbar miteinander verknüpft. Eigentlich ist der Ausdruck „Längsbiegung“ nicht ganz korrekt. Denn wie hinlänglich bekannt ist, lässt sich die Wirbelsäule einer halben Tonne schweren Körpermasse wie die des Pferdes nicht verbiegen. Sie lässt sich allenfalls krümmen. Der Gymnastikeffekt dieser Stellung ist die Dehnung der jeweiligen Außenseite. Das innere Hinterbein tritt vermehrt unter und nimmt Gewicht auf, der innere Zügel wird automatisch leichter. Die relativ kurzen Kopf- und Halsmuskeln werden sanft gedehnt und das Pferd beginnt, seinen Hals zu biegen und sein Genick zu beugen: All das – nennen wir es die sanfte Krümmung – hilft schon zu Anfang, Widerstände zu überwinden, das Pferd zu lösen und die Geraderichtung zu verbessern. Zuerst an der Longe auf dem Zirkel, später unter dem Reiter. Nuno Oliveira und Gustav Steinbrecht haben stets klar formuliert, dass die heutzutage „allzu beliebte Genickrundung“ (Stichwort Rollkur) bei der Ausbildung denkbar unerwünscht ist.
Die sanfte Biegung auf dem Zirkel wird - wie später auch die stärkere - nicht, ich wiederhole nicht, mit dem inneren Zügel geritten. Damit erreicht man exakt das Gegenteil von dem, was man eigentlich möchte – nämlich ein gerades, leicht gekrümmtes Pferd, das Takt, Kadenz und Schwung zeigt. Wer am inneren Zügel zieht, bekommt Widerstand: ein steifes Genick, einen unnachgiebigen Rücken und starre Hanken. Der innere Schenkel macht die Biegung. Er liegt vorne in der Nähe des Sattelgurts. Der äußere Schenkel liegt eine Handbreit zurück, er begrenzt. Die Schultern des Reiters befinden sich in der Achse des Pferdes, will heißen, die äußere Schulter wird vor genommen. Der äußere Zügel hat steten Kontakt, der innere ist sehr weich und darf sich auch mal öffnen, um Stellung zu geben – aber ohne Zug auszuüben! Nur auf diese Weise erreichen wir die sanfte Dehnung der Außenseite bei gleichzeitiger Entspannung der Inneren: Das Pferd lässt innen los.
Die
gerittene, stärkere Biegung ist die Vorbereitung zur Versammlung.
Denn je stärker die Biegung umso mehr wird das Pferd das jeweilige
innere Hinterbein untersetzen und Tragkraft entwickeln. Das Ganze
muss allerdings in einem langsamen, kadenzierten Schritt geritten
werden, weil das Pferd dabei seine Gelenke biegen muss. Volten,
Schulterherein und Travers sind die Mittel der Wahl.
Ach ja, das Schulterherein: Anders als in der deutschen klassischen Lehre, bei der der Hals des Pferdes in dieser Lektion gerade bleibt, ist das Schulterherein bei Oliveira eine komplett gebogene Übung. Zitat: „Es geht nicht so sehr darum, dass das Pferd seitwärts tritt, sondern gebogen“ (Nuno Oliveira, „Notizen zum Unterricht“, Seite 63, Olms Verlag 1998). In logischer Kosequenz daraus – nämlich dass hierbei auch der Pferdehals leicht gebogen wird – lehrte Oliveira das Schulterherein auf vier Hufschlägen. Daraus resultiert wiederum eine andere logische Kosequenz: Mit einer solchen Biegung im Schulterherein setzt das Pferd das innere Hinterbein stärker unter seinen Schwerpunkt, also nach unten und nach vorn. Für den Rumpf bedeutet das: Stretching außen, Entspannung innen. Kontrolliert wird dabei die äußere Seite über den äußeren Zügel und den leicht nach hinten angelehnten äußeren Schenkel. Der innere Schenkel – klar – ist vorne am Sattelgurt.
Der Reiter sitzt dabei immer in der Mitte des Pferdes – und jetzt kommt das, was dem widerspricht, was wir in deutschen Reitschulen gelernt haben: Der Reiter verlagert sein Gewicht ein kleines bißchen nach außen, in den äußeren Steigbügel. Sagen wir, in Form von etwa einem Pfund Butter. Warum?
In unseren deutschen Reitschulen wird gelehrt, das Reitergewicht in den Seitengängen nach innen zu verlagern, um das Pferd nach außen zu drücken. Jetzt mal im Ernst: können Sie mit Ihrem Sitzgewicht ein seitwärts gehendes, gebogenes Pferd von einer halben Tonne Körpermasse „weg drücken“? Das können Sie nicht. Nicht einmal Arnold Schwarzenegger hätte das gekonnt. Folge dieser Art von „Gewichtsverlagerung“: Das Pferd fällt in der Schulterherein nach innen, es gibt Widerstand, die Lektion wird für den Reiter richtig schwer zu reiten. Belastet man hingegen die äußere gebogene Seite im Schulterherein mit ein klein wenig Gewicht (ohne nach außen zu hängen!), erleichtert man es dem Pferd ganz erheblich, unter seinen Schwerpunkt zu treten. Versuchen Sie das mal an einem Menschen: Nehmen wir an, er soll einen Schritt nach rechts machen. Drücken Sie ihm an die linke Schulter, bekommen Sie unweigerlich Gegendruck von ihm, bis er schließlich nach rechts stolpert. Drücken Sie ihm dagegen mit der Hand auf die rechte Schulter, so dass es sie senkt und mehr Gewicht rechts empfindet - wird dieser Mensch mit Leichtigkeit einen kreuzenden Schritt nach rechts machen. Mit dieser einfachen Demonstration habe ich schon viele Reitschüler überzeugt.