Schulterherein macht glücklich
Die Seitengänge bei Nuno Oliveira
(erschienen in "Feine Hilfen" Nr. 51 Februar/März 2022)
von Kathrin Brunner-Schwer
Die Seitengänge waren für Nuno Oliveira der ultimative Weg zur Losgelassenheit. Er betrachtete Schulterherein und Traversarbeit als „unverzichtbare“ Mittel der Gymnastizierung. Er sprach dabei von der „Geschmeidigmachung“ und setzte Seitengänge vornehmlich zur Lockerung des Pferdes ein.
Seitengänge waren für Nuno Oliveira (1925 – 1989) unbedingte Grundlagen guter Dressurarbeit. Schon vor dem Einreiten brachte er den jungen Pferden die ersten Seitwärtstritte am Boden bei. Dreh- und Angelpunkt seiner Gymnastizierung mittels der Seitengänge war das Schulterherein, sein Mittel der Wahl für die Lockerung der Wirbelsäule, für die Geraderichtung, für Versammlung und das „runden“ des Pferdes, wie seine Schwiegertochter Sue Oliveira (1950 – 2007) ihn immer zitierte. Allerdings möchte ich an dieser Stelle gleich zu Anfang etwas klar stellen. Beim Thema Seitengänge und Nuno Oliveira existiert eine Art Zerrbild des portugiesischen Reitmeisters, das wohl auf die mangelhaften Archiv-Filmschnipsel zurückzuführen ist, die im Internet grassieren: Nuno Oliveira ist dort sehr oft nur in Seitengängen zu sehen. Was eben nicht zu sehen ist: Zwischen den einzelnen Reprisen der Seitengänge ließ es seine Pferde immer wieder in Dehnungshaltung gehen, wobei er sehr genau auf die Geraderichtung achtete. Er erwähnt dies auch immer wieder in seinen Büchern, allerdings nur in Nebensätzen, weil er das als eine Selbstverständlichkeit erachtete. Auch Sue Oliveira ließ ihre Schüler zwischendrin immer wieder in Dehnungshaltung reiten – Schritt, Trab und Galopp.
Schulterherein als Schlüssellektion
„Stets, gewiss und auf jeden Fall beginne ich die Ausbildung eines Pferdes mit keiner anderen Übung als mit Schulterherein“, schreibt Nuno Oliveira in „Gedanken über die Reitkunst“ (Olms Verlag 1999). Er folgte damit François Robichon de la Guérinière (1688–1751), dem die Erfindung der Schulterherein nachgesagt wird und von dem das folgende Zitat stammt: „Das Schulterherein ist die erste und die letzte Schule, in der man ein Pferd unterrichten muss.“
Das Schulterherein betrachtete Nuno Oliveira als die Schlüssellektion schlechthin. Allerdings: Während die Deutsche Reitlehre das Schulterherein nur auf drei Hufpisten und mit einer Abstellung von etwa 30 Grad lehrt (wobei die Hinterfüße parallel spuren und nur die Vorderfüße kreuzen), ritt Nuno Oliveira diese Übung auf vier Hufpisten und mit einer Abstellung von 45 Grad. Das hat zur Folge, dass sich die Hinterhand senkt, weil das jeweilige hintere Innenbein des Pferdes sowohl kreuzt als auch nach vorne tritt. Das innere Hinterbein des Pferdes tritt also in Richtung eines gedachten „X“ in der Mitte des Pferdebauchs – es nimmt vermehrt Gewicht auf, und zwar erheblich mehr als bei der Abstellung in der Deutschen Reitlehre. Dabei nimmt man die Schultern des Pferdes deutlich weg von der Wand. In „Zuhause bei Nuno Oliveira“ (Olms Verlag 2007) zitiert ihn Eleanor Russell: „... es sollte 'Schulternherein' heißen, nicht 'Schulterherein', weil beide Schultern innen sind, die eine ein bisschen mehr als die andere“ - die Folge der 45 Grad Abstellung.
Und so lehrte Nuno Oliveira das Schulterherein (hier das Beispiel auf der linken Hand). Sein oberstes Prinzip dabei: innerer Schenkel und äußerer Zügel.
Weil die Schultern des Reiters oder der Reiterin immer parallel zu den Schultern des Pferdes sein sollten, nimmt man die innere, linke Schulter leicht zurück. Prinzipiell gilt: Die innere Schulter ersetzt den inneren Zügel. Ist sie zurück, braucht man man wesentlich weniger inneren Zügel;
Das innere Bein liegt locker vorne am Sattelgurt (Stichwort „das Pferd ist um den inneren Schenkel geborgen“), das äußere Bein liegt leicht zurück;
Der innere Zügel ist leicht geöffnet und locker, der äußere Zügel begrenzt und kontrolliert; um die Schultern des Pferdes von der Bande weg zu führen, nimmt man beide Hände kurz nach innen (in dem Fall nach links): Der äußere Zügel bringt so die Schultern herein. Dann nimmt man die Hände sofort wieder in die normale Stellung. Der Hals des Pferdes ist nur minimal nach innen gebogen;
Wenn man mit dem äußeren Zügel die Schultern des Pferdes „herein“ genommen hat, hält man die Hinterhand mit dem Sitz auf dem Hufschlag. So verhindert man das Abdriften des Pferdes nach innen;
Das innere Bein des Reiters oder der Reiterin gibt – aber nur wenn nötig – einen treibenden Impuls, das äußere Bein begrenzt lediglich;
Man bleibt unbedingt in der Mitte des Pferdes sitzen. Jede Gewichtsverlagerung bringt das Pferd aus dem Gleichgewicht, es fällt dann entweder auf die innere oder die äußere Schulter. Ausnahme: Beim jungen Pferd, das das Schulterherein lernen soll, darf man sein Gewicht maximal um ein Pfund Butter in den äußeren Steigbügel verlagern;
Der Schritt des Pferdes sollte langsam und in einem gleichmäßigen Takt sein, weil es so vor allem die Hinterbeine besser kreuzen und nach vorne setzen, will heißen Gewicht aufnehmen kann. Das Gleiche gilt im Trab. Im Trab ist der Takt essentiell für ein gelungenes Schulterherein;
Besonders wichtig bei Schulterherein ist die Vorbereitung: Man reitet das Pferd unbedingt und korrekt in die Ecke, um die auf diese Weise „gewonnene“ Biegung mitzunehmen. Ein berühmtes Zitat von Nuno Oliveira: „Jede Ecke ist eine kleine Schulterherein“. Es ist sehr viel Wahres daran: Allein beim Durchqueren der (gut ausgerittenen) Ecke setzt das Pferd sein inneres Hinterbein bereits mehr unter.
Wer Schulterherein auf diese Art reitet, wird sehr schnell bemerken, wie das Pferd plötzlich leicht wird in der Hand, wie es sich zunehmend konzentriert. Später kann man diese Konzentration überprüfen, indem man zuerst ein descente de main (das Fallenlassen der Hand) mit dem inneren Zügel anbietet und deutlich mit der Hand nachgibt – zunächst nur ein paar Tritte. Wenn das Pferd dann in der perfekten Haltung bleibt, kann man auch mit dem äußeren Zügel nachgeben. Nuno Oliveira überprüfte die Schulterherein außerdem noch gerne, indem er in Schulterherein anhielt und wieder anritt. Oder (und das ist wirklich schwer): Man reitet ein Schulterherein an der langen Seite, bei deren Hälfte man eine große Volte einlegt, um dann den Rest der langen Seite wieder in Schulterherein zu absolvieren. Klappt diese große Volte, ohne dass das Pferd schief wird, schwankt oder aus dem Takt kommt... dann ist man Schulterherein-Weltmeister. Und das Pferd in absolutem Gleichgewicht.
Nur: Was sich so einfach liest, ist meiner Erfahrung nach in der Regel schwierig, umzusetzen. Entweder, weil man es falsch gelernt hat, oder weil man unwillkürlich versucht, beim Schulterherein die Hinterhand des Pferdes mit dem inneren Schenkel nach hinten gelegt in Richtung Bande zu drücken während man am inneren Zügel zieht – was natürlich unmöglich funktionieren kann. Viele Reiterinnen und Reiter sitzen dann auch noch nach innen, um ihr Pferd „rauszudrücken“ und ziehen dabei meistens das innere Knie hoch. Doch wie will man 500 Kilogramm Lebendgewicht „rausdrücken“? Das könnte nicht mal Arnold Schwarzenegger, wie Sue Oliveira immer wieder trocken kommentierte. In Folge dessen verwirft sich das Pferd und wird verkrampft versuchen, irgendwie seitlich zu gehen. So bitte nicht! Beim Schulterherein auf vier Hufpisten geht es um die „Lenkung“ der Pferdeschultern. Die müssen weg von der Bande.
Wie enorm wichtig dem portugiesischen Reitmeister das Schulterherein war, machte er in seinen Schriften unmissverständlich klar und griff dabei auch zu ziemlich drastischen Worten. Eleanor Russel zitiert ihn wörtlich folgendermaßen: „Sehen Sie sich das so genannte Schulterherein an, wie man es oft sieht, bei welchem der Reiter am inneren Zügel zieht, nach innen hängt, den Schenkel zurückzieht, um dem armen Tier den Sporn zu geben, der es zwingt, sich so verdreht zu bewegen. (…) Ich würde das schlecht ausgeführte Verrenkungen nennen, und es wäre besser, diese schlechten Verrenkungen überhaupt nicht zu reiten.“
Erst nachdem das Pferd Schulterherein (und natürlich auch Konterschulterherein) beherrscht, ging Nuno Oliveira zur Traversarbeit über. Das Prinzip ist logisch: Durch die Arbeit in Schulterherein hat das Pferd gelernt, sich um den inneren Schenkel zu biegen und ihn zusammen mit dem äußeren Zügel anzunehmen. Die Hilfen sind ähnlich wie beim Schulterherein, nur dass der innere Zügel nicht offen sondern eher zu ist, will heißen, er kann sich auch mal in Richtung des äußeren Zügels bewegen, um die Stellung des Pferdehalses zu korrigieren. Der äußere Zügel wiederum „lenkt“ die Pferdeschultern, indem er kurz nach innen genommen wird, um die Schultern in Richtung des Travers zu stellen. Nuno Oliveira pries den Wechsel zwischen Schulterherein, Konterschulterherein, Traversalen, Travers und Renvers immer wieder an, weil sie „das Pferd entspannen und aufnahmefähiger machen“. „Je mehr man sie reitet, desto leichter wird das Pferd und desto besser versammelt es sich“, zitiert ihn Eleanor Russell. Man müsste noch hinzufügen: „Desto williger konzentriert es sich“. Und desto glücklicher wird der Mensch obendrauf. Fakt.
(Foto: Evi Kuenstle)
Galopp ist kein Hexenwerk
Von Kathrin Brunner-Schwer
Auf meinen Lehrgängen stoße ich immer wieder auf das eine Thema: den Galopp. Meistens ist dieses Thema mit Angst besetzt. Hier nun ein paar Grundsätze dazu.
Der Galopp ist der Wiener Walzer der drei Grundgangarten. Galopp kann entspannen, den Schwung verbessern und sogar als Belohnung (!) eingesetzt werden. Bei vielen Pferden fördert der Galopp die Losgelassenheit effektiver als der Trab. Und ein schön gesetzter, kadenzierter Galopp ist für das Pferd weniger anstrengend als Trab. In seiner versammelt-leichten Variante ist Galopp schlichtweg ein Tanz. Und nach den Oliveira-Prinzipien geritten eine Freude.
„Achten Sie auf die Reinheit der Gangart, auf die Abfolge von drei Sprüngen! Der Rest ist wenig“, betonte Nuno Oliveira in allen seinen Schriften immer wieder. Aber was meinte er mit der „Reinheit“ des Galopps? Oliveira meinte damit den Dreitakt aus der Hinterhand. Den Galopp im Viertakt geißelte er als „disgracieux“, als „häßlich“. Und auch seine Schwiegertochter Sue Oliveira korrigierte alle Schüler, die im Viertakt daher kamen mit den Worten: „Dein Pferd galoppiert auf den Schultern – das ist kein Galopp!“
Galopp ist kein Hexenwerk. Galopp ist die einfachste der drei Grundgangarten. Er ist allerdings nur dann die einfachste, wenn die anderen beiden Gangarten stimmen. Schritt und Trab und ganz besonders die Übergänge zwischen beiden müssen sitzen, ohne dass sich das Pferd im Übergang versteift, verwirft oder auseinander fällt. Das Pferd muss sich im Trab bereits ein wenig versammeln lassen, ohne dass es an Energie verliert und der Takt muss stimmen. Will heißen, das Pferd ist in beiden Grundgangarten ausbalanciert und gerade. Und zwar vor allem gerade! Wenn das Pferd zum Angaloppieren nicht gerade ist – und das gilt hier vor allem für das junge Pferd – dann kann das Ganze in einem unkontrollierten Schweinsgalopp enden, der für beide Beteiligten höchst unangenehme Folgen haben kann. Aus diesem Grund ist der Galopp auch ein Angstthema bei manchen Reitern. Das muss aber nicht sein: Die Oliveira-Prinzipien für einen korrekten Galopp haben mir vor Jahrzehnten das Unbehagen davor genommen, das so viele deutsche Reitlehrer mir zuvor erfolgreich eingepflanzt hatten. Auch auf einem jungen Pferd fühlte ich mich im Galopp plötzlich sicher.
In der Frage der „richtigen“ Galopphilfen gibt es bei Oliveira kein Dogma. „Ich weiß, dass es eine immerwährende, große Diskussion darum gibt, ob mit dem inneren oder dem äußeren Schenkel angaloppiert werden soll“, sagt Nuno Oliveiras Enkel Gonçalo, der in Mailand lebt und unterrichtet. „Wir Oliveiras jedenfalls galoppieren mit dem äußeren Schenkel. Der Innere bleibt am Platz und greift nur ein, wenn der Schwung nachlassen sollte, beziehungsweise wenn ich das Pferd im Galopp nach einem Schulterherein oder einer Traversale frage, wo es sich um den inneren Schenkel biegen soll.“ Auch Sue Oliveira plädierte für den äußeren Schenkel, weil er beim ersten, wichtigsten Galoppsprung effektiver dazu beiträgt, das Pferd gerade zu halten. Und das stimmt. Es ist in der Tat einfacher.
Das Wichtigste am Galopp ist das Angaloppieren. Ein korrekter Start in den Galopp wird die Qualität des Galopps verbessern. Auf die 'Eins' von jedem 'Eins-Zwei-Drei' kommt es an. Betrachten Sie jeden ersten Sprung innerhalb der Galoppsprung-Abfolge als Angaloppieren. Man muss beim Angaloppieren spüren, dass das Pferd die Vorhand hebt und sich nicht nach vorne wirft.
„Galopp kann man auch zum Lösen des Pferdes einsetzen“, meint Gonçalo Oliveira, „manche Pferde lösen sich auf diese Weise besser, sie atmen besser. Vor allem, wenn ein Pferd im Trab klemmt oder nicht genügend Energie an den Tag legt, kann ein kurzer Galopp befreiend wirken.“ Doch lösen kann sich das Pferd nur in einem geraden Galopp. Die meisten Fehler beim Galopp kommen von der Schiefe des Pferdes. Einer dieser Fehler, den man immer und immer wieder beobachten kann, ist das Angaloppieren mit einem (meistens nach innen) gestellten Pferd. Es ist völlig unlogisch, das Pferd im Galopp nach innen zu stellen. So wird es aus der notwendigen Balance gebracht und der Schub von hinten nach vorne gestört. Folgen: das Pferd fällt entweder auf die innere oder äußere Schulter, meistens kommt die Kruppe nach innen und oft wird es viel zu schnell im Galopp.
Sind alle Voraussetzungen gegeben und die Übergänge von Galopp zum Schritt stimmen, ohne dass das Pferd zwischendrin auseinander fällt und auch im Außengalopp versammelt und gerade bleibt – erst dann gibt es den ersten fliegenden Galoppwechsel. Und der funktioniert nach Oliveira folgendermaßen (am Beispiel vom fliegenden Wechsel von rechts nach links): Am Anfang einer langen Bahnseite galoppiert man das Pferd im korrekten Rechtsgalopp an. Nach drei bis vier Galoppsprüngen pariert man durch zu einigen Schritten im (versammelten) Schritt. Dann galoppiert man im Außengalopp an, wieder nur drei bis vier Sprünge. Wieder durchparieren zum Schritt. Diese Abfolge (Rechtsgalopp, Schritt, Linksgalopp, Schritt) wiederholt man fünf,- sechs-, siebenmal oder mehr hintereinander auf einem großen Zirkel. Beim (zum Beispiel) achten Mal angaloppieren im Außen- beziehungsweise Linksgalopp verzichtet man auf das Durchparieren in den Schritt und gibt möglichst an einem Zirkelpunkt, an dem man vorher schon rechts angaloppiert ist, die Hilfe für den Rechtsgalopp. Klingt einfach? Ist es auch. Und logisch für´s Pferd.
Manche
Pferdefachleute behaupten übrigens, dass Pferde in Freiheit aus
Energiespargründen nur im äußersten Fall den Galopp wählen. Diese
These deckt sich allerdings nicht mit meinen Erfahrungen.
Ich sage, Pferde galoppieren gerne – es scheint ihnen mehr Spaß zu machen als zu traben. Das ist jedenfalls, was ich täglich aus den Fenstern meiner Wohnung beobachten kann. Wenn die Pferde auf den Koppeln des benachbarten Pensionsstalls miteinander spielen, bewegen sie sich immer mehr im Galopp als im Trab. Und wenn ich nach dem Reiten auf meinem kleinen Reitplatz vor dem Haus meinem 27-jährigen Araberhengst Sattel und Zaumzeug ausziehe, galoppiert er gut gelaunt aus dem Stand in sein offenes „Zimmer“ im Stall zurück, jedes Mal. Er könnte das auch im Trab tun. Tut er aber nicht.
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Wie wichtig die korrekte Galopparbeit sein muss, weil der Pferdekörper in dieser Gangart Extremes leistet, verdeutlichen diese Zahlen von Dr. Christian A. Bingold, Pferdeklinik Großostheim.
Die maximale Belastung pro Pferdebein bei Landung im Galopp beträgt das 2,5 fache des Körpergewichtes - bei einem 600 kg Pferd sind das 1,5 Tonnen. Dabei spielt sich Folgendes im Pferdekörper ab:
Herzleistung 110-250 Schläge pro Minute
Atem 110-140 Züge pro Minute
Sauerstoffverbrauch 20 - 80 Liter pro Minute
Sue Oliveira: Eine Hommage
Sue Oliveira auf Bariton. Foto: Familienarchiv Oliveira
Von Kathrin Brunner-Schwer
Reiten
lernen wird heutzutage unterschätzt. Der extrem komplexe Prozess
dieses Lernvorgangs leidet unter dem Pragmatismus unserer
leistungsorientierten Gesellschaft. Alles muss schnell gehen.
Effizient sein. Immerhin bezahlt der Reitschüler ja dafür. Dabei
ist Reiten lernen einer der langwierigsten und schwierigsten
Prozesse, die man im Leben absolvieren kann. Er führt in viele Sackgassen und endet nie. Und der
Reitlehrer ist die Schlüsselfigur in diesem Prozess. Ich möchte hier von einer ganz besonderen Reitlehrerin erzählen, einer Frau, die im Leben von sehr vielen Reitern... alles veränderte: Sue Oliveira. Eine Hommage.
Der Reitlehrer ist die einflussreichste und wichtigste Person im Leben eines Reitschülers. Er ist mehr als nur „die halbe Miete“ - er ist die ganze. Er ist der Mediator zwischen Reiter und Pferd. Denn Reiten ist viel mehr als bloße Körperbeherrschung und Know-how. Reiten ist kein Sport. Reiten ist die komplexe Kommunikation mit einem Lebewesen, das es zu verstehen und zu erfühlen gilt. Und das ein Recht darauf hat, verstanden und erfühlt zu werden. Ein Pferd hat exakt dieselben Befindlichkeiten wie ein Mensch. Es versteht oder versteht nicht. Es kann sich gut oder es kann sich schlecht fühlen – genau wie ein Mensch. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, als es ohnehin schon ist: Pferde sind viel sensibler als Menschen. Sie spiegeln direkt, unmittelbar und schnörkellos die physische und psychische Verfassung ihres Reiters wieder. Ein erfahrener Reitlehrer erkennt eben diese Befindlichkeiten sowohl beim Reiter als auch beim Pferd. Oft reicht ihm sogar allein der Blick auf das Pferd, um Rückschlüsse auf die Befindlichkeit seines Schülers zu machen. Jahrzehnte lang habe ich bei Dutzenden von Reitlehrern gelernt. Bis ich den einen, genauer gesagt die eine fand, die alles änderte. Und zwar so fundamental, dass ich quasi bei Null wieder anfangen musste und auch wollte: Sue Oliveira. Sie stellte mich komplett auf den Kopf, schüttelte mich durch und setzte alles nach und nach neu zusammen.
Zu Sue Oliveira kamen Reitschüler, die auf der Suche waren. Die das „Vorne ziehen, hinten treiben“ überdrüssig hatten und wissen wollten, wovon Nuno Oliveira in seinen Büchern sprach. Immer wieder gefragt, wo denn der Unterschied liege zwischen modernem Dressursport und den klassischen Prinzipien, antwortete sie jedes Mal mit folgendem Vergleich: „Das eine ist Bodenturnen, das andere Ballett.“
Sue Oliveira unterrichtete derart logisch und eindrücklich, dass ich sie noch heute sprechen höre, wenn ich auf einem Pferd sitze. Sie konnte sowohl beruhigen als auch anfeuern und brachte nie Verwirrung in eine Stunde. Jeder ihrer Reitschüler vertraute ihr in kürzester Zeit hundertprozentig, sie ließ niemanden allein, auch nicht für eine Minute. Sie verstand es, gekonnt zu loben, zu ermutigen oder auch zu kritisieren, ohne dass man sich angegriffen fühlte. Ihre Erklärungen waren immer plakativ. Sie wußte die Lösung für alle Probleme, ohne Schüler und Pferd den Eindruck zu geben, dass einer von beiden untalentiert ist. Und hatte sie wiederum den Eindruck, dass ein Schüler nicht wirklich verstehen wollte, dann erklärte sie pragmatisch und direkt: „Dein Pferd muss jetzt da durch, weil du es bis dato falsch gemacht hast“. Ganz zu schweigen von den Momenten, in denen sie sich selbst auf das Pferd des Reitschülers setzte, um Probleme zu lösen. Jedesmal weiteten sich die Augen der Pferdebesitzer vor Staunen, wie sich ihre Pferde unter Sue verwandelten. Wenn sie sie dann fragten „Sue, wie machst du das nur?“ antwortete sie stets: „Das ist Jahrzehnte lange Erfahrung. Die Légèreté kommt nicht von alleine. Sie ist das Ergebnis von viel Arbeit und noch mehr Geduld – für den Reiter“.
Und noch etwas zeichnete Sue Oliveira als kluge Lehrerin aus: Sie beendete die Stunden immer, wenn etwas richtig gut geklappt hatte. Anfangs dachte ich, sie tue das für das jeweilige Pferd. Denn man sollte eine Arbeitseinheit immer beenden, wenn eine Korrektur oder eine neue Trainingsaufgabe vom Pferd verstanden wurde. Loben und sofortiges Absitzen sind ungeheuer effizient, damit das Pferd am nächsten Tag den Gang in die Reithalle mit etwas Positivem assoziiert. Sue tat das aber auch für den Reitschüler. Weil sie genau wußte, dass zum Beispiel nach dem allerersten fliegenden Galoppwechsel eine Wiederholung desselben unmittelbar im Anschluß garantiert in die Hose geht. Nicht unbedingt, weil es das Pferd nicht konnte. Sondern weil die Erwartungshaltung des freudig erregten Reitschülers nach diesem ersten Erfolg ins Unermessliche steigt – und damit ein „fail“ vorprogrammiert ist. So freute man sich einfach auf die nächste Reitstunde, nachdem man eine Nacht darüber schlafen konnte. Das war klug von ihr.
Nuno Oliveira schreibt: „Um zu erreichen, dass der Schüler dieses oder jenes bei seinem Pferd erreicht, muß man zunächst seine Fähigkeiten beurteilen können, den besten Weg finden, sich ihm verständlich zu machen und den besten Weg, damit er sich seinem Pferd verständlich machen kann“ (aus „Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden“, Olms Presse 1996). Vor allem, „sich verständlich machen“. Daran hapert es oft innerhalb der Kommunikation von Schüler und Lehrer. Dann endet das Ganze schnell in Überforderung. Man kommt nicht mehr mit. Zu schnell. Zu viel. Zu wenig erklärt. Daraus resultiert in Folge oft ein Mangel an Wertschätzung. Wer das nicht für sich spürt, kann das auch nicht an sein Pferd weitergeben. Deshalb ist es auch die Aufgabe eines Reitlehrers, für diese Wertschätzung zu sorgen.
Allerdings ist ein solcher Reitlehrer auch Bildermaler, Interviewer und Feinmechaniker.
Wieso?
Der Bildermaler
Wenn ein Reitschüler etwas nicht begreift, liegt es an der Erklärung des Reitlehrers und nicht am Schüler. Es ist allein Aufgabe des Lehrers herauszufinden, auf welche Weise er den Schüler/die Schülerin erreicht. Bilder helfen immer. Beispiel: Der Reiter/die Reiterin soll gerade sitzen, ohne dass er oder sie sich zu sehr nach hinten oder nach vorne lehnt. Deshalb soll er oder sie sich eine Verbindung von seinem Bauchnabel und dem Mittelpunkt zwischen den Ohren des Pferdes vorstellen. Ich benutze dabei gerne folgende Version: „Dein Bauchnabel ist gepierct und an diesem Piercing ist ein Drahtseil angebracht, das deinen Nabel mit dem Punkt zwischen den Pferdeohren verbindet. Fällst du mit dem Oberkörper zu sehr nach vorne oder nach hinten ...“ - den Rest überlasse ich der Vorstellungskraft. Oder ein anderes Bild gegen die verdeckte Reiterhand: „Stell dir vor, du hast zwei brennende Kerzen in jeder Faust. Kippst du die Fäuste nach vorne, riskierst du, die Haare Deines Pferdes in Brand zu setzen“. Ich weiß, das ist drastisch. Aber es hilft. Das Copyright dafür liegt übrigens bei Sue Oliveira.
Der Interviewer
Den vorangegangenen Erklärungen sollten Fragen folgen. Ein Reitlehrer muss den Schüler/die Schülerin interviewen können. Die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt beziehen den Schüler/die Schülerin mit ein und lassen ihn oder sie nicht allein. „War diese Traversale jetzt korrekt? Wie hat sich der Galoppwechsel angefühlt, woran könnte es liegen, dass dein Pferd nur mit der Vorhand umgesprungen ist?“ Die Suche nach der Antwort festigt die Erkenntnis. Immer.
Der Feinmechaniker
Der Reitlehrer muss die allerkleinsten Fehler erkennen und justieren können. Wenn ein Pferd auf seiner (je nach Größe) fünf bis zehn Quadratmeter umfassenden Haut eine einzige Fliege ausmachen und abschütteln kann – wie sehr bemerkt es erst, wenn zum Beispiel eine Reiterin im Sattel zu sehr nach rechts hängt. Das habe ich erst neulich wieder im Video von der Reitstunde eines derzeit hoch gepriesenen Reitlehrer-Gurus beobachtet. Er wollte, dass das Pferd der Schülerin sein linkes Hinterbein mehr untersetzt und korrigierte sie auf alle möglichen Weisen. Ohne dabei zu bemerken, dass das Mädchen rechts runterhing und sich das Pferd natürlich auszubalancieren versuchte und hinten rechts mehr untertrat als hinten links. Mit Sicherheit war die Reiterin es auch so gewöhnt. Deshalb liegt hier eine besondere Herausforderung für den Reitlehrer: Er muss den Schüler/die Schülerin neu justieren und alte Muster ausmerzen. Und das ist richtig schwer. Nicht für den Reitlehrer, sondern für den Schüler.
Sue Oliveira war all dies in Personalunion. Sie hat mich zutiefst geprägt. Sie starb viel zu früh am 11. September 2007. Trotzdem ist sie an meiner Seite und begleitet mich zu allen Kursen und Reitstunden.
Wieso macht der immer "Aaaaah"?
Foto: kbs
Von Kathrin Brunner-Schwer
Gibt es eine universelle Sprache, in der ich mit meinem Pferd kommunizieren kann? Oder anders: gibt es eine sprachliche Kommunikationsebene, die jedes Pferd tatsächlich versteht? Die Antwort lautet: Ja. Luis Valença erklärt, wie es funktioniert.
„Betrachte
dein Pferd, was die Kommunikation angeht, wie ein kleines Kind“, sagt der
portugiesische Reitmeister. „Der erste Kontakt ist von großer
Bedeutung. Dabei ist die Stimme das Wichtigste. Das gilt sowohl für
das junge als auch für das schon reifere Pferd, das den Besitzer
wechselt.“ Das Geheimnis liegt im „Aaaah“. Wer den
portugiesischen Reitmeister bei der Arbeit beobachtet, wird bemerken,
dass er immer wieder „Aaaah“-Laute von sich gibt.
„Man fängt mit einem tiefen, sanften, langgezogenen ‚Aaaah‘ an. Dabei berührt man das Pferd an Stellen am Körper, wo ihm die Berührung angenehm ist: vorzugsweise zuerst am Widerrist, weil Pferde durch gegenseitiges Kraulen an der Stelle ihre soziale Bindung festigen.“ Angenehm ist auch die Berührung am unteren Halsansatz, weil da die Mutterstuten ihre Fohlen schmusen oder auch an der Mitte des Halses. Also: Das tiefe, weiche „Aaaah“, verbunden mit der zärtlichen Berührung an einer angenehmen Stelle, „vermittelt etwas Positives“, sagt Valença. „Pferde verstehen das sofort.“
Im nächsten Schritt folgt das kurze, bestimmte, etwas höhere „Ah“ oder auch ein „Ah Ah“, wenn das Pferd etwas Unerwünschtes tut. „Das ist wie bei Kindern“, so Valença, „die verstehen das auch sofort. Es ist der Ausdruck der Stimme, der zählt.“ Er fasst zusammen: „Die stimmliche Kommunikation mittels des positiven, langezogenen ‚Aaaah‘ und des neagtiven, kurzen ‚Ah‘ etabliert eine Verständigungsbasis zwischen Mensch und Pferd, die den Einsatz von Gewalt völlig unnötig macht.“ Seit über 50 Jahren kommuniziert der Reitmeister so mit allen Pferden, „und es funktioniert immer“.
Wer die „Aaaah“-Kommunikation erfunden hat – Luis Valença weiß es nicht. Er selbst hat sich die Methode bei Nuno Oliveira abgeschaut. Wozu er auch eine Anekdote weiß: „Als ich bei ihm in die Lehre ging kamen eines Tages einige Besucher aus Deutschland zu ihm auf die Anlage. Er ritt gerade eines seiner jungen Pferde. Einer der Besucher drehte sich zu mir und sagte besorgt: Ich glaube, Herrn Oliveira ist krank! Hat er Schmerzen? Er macht ständig ‚aaaah‘…“!
Das Pferd ist ein Tänzer an Deiner Hand
Haben Sie Ihr Pferd schon einmal dabei beobachtet, wie es gutgelaunt auf der Koppel mit den anderen spielt und dabei „eine Show abzieht“? Wie es sich im Spiel aufrichtet? Wie es sich raumgreifend bewegt und dabei den Rücken wölbt? Kurz: wie es Schwung zeigt? Nein? Achten Sie einmal darauf. Denn: der Schwung ist der Spiegel der Psyche des Pferdes.
Schwung ist das Fundament, auf dem alles aufbaut. Schwung kommt aus der Hinterhand: Wenn die Tritte kraftvoller werden, können die Hinterbeine vermehrt Gewicht aufnehmen; die Schubkraft erhöht sich, das Pferd kann sich leichter ausbalancieren. Die Energie, die das Pferd durch einen erhöhten Schwung entwickelt, macht alles einfacher: Sie führt zu mehr Spannkraft und zwar sowohl im Schritt als auch im Trab und im Galopp. Diese Energie kann dabei helfen, das Pferd gerade zu richten, sie kann Verspannungen im Pferdekörper lösen und wirkt sich positiv auf Verhaltensprobleme aus. Denn ein schöner Schwung und der damit verbundene Energiefluss ist angenehm für das Pferd, es bekommt Freude an der Bewegung – so wie es umgekehrt beim Spielen auf der Koppel in guter Laune von sich aus „in Schwung kommt“. Ein schwungvolles Pferd ist ein gut gelauntes Pferd. Wie viele Reiter dachten schon insgeheim, wenn sie ihr Pferd beim Freispringen oder beim freien Spielen beobachteten, „wie schön, wenn es das auch beim Reiten zeigen würde“...
Schwung heißt aber nicht Geschwindigkeit. Hier liegt oft der große Fehler. Vermehrt zu treiben um mehr Schwung zu bekommen bewirkt das Gegenteil: Die Tritte werden flacher, das Pferd wird steif, es strampelt, fällt auf die Vorhand und wechselt im schlimmsten Fall in die nächst höhere Gangart, aus der es dann wieder herunter gebremst werden muss. Hier kommt die Kadenz ins Spiel, sie reguliert den Schwung. Die Kadenz ist angeboren, jedes Pferd hat einen gewissen Grad an Kadenz. Sie ist der mit Energie geladene, kraftvolle Takt, der dem Pferd Ausdruck verleiht und die Schwebephasen beeinflusst. Ein Pferd mit einer guten Kadenz wird bei der Aufforderung, mehr Schwung zu zeigen, nicht schneller werden. Deshalb gehören Schwung und Kadenz zusammen wie Butter und Brot.
Ein Pferd muss die Hilfen
des Reiters kennen, bevor es darauf mit Schwung reagieren kann. Viel
zu oft und gerade bei Pferden, die in ihrer Ausbildung noch in die
Grundschule gehen, setzen Reiter Hilfen ein, die ihre Pferde noch gar
nicht hundertprozentig gelernt haben. Solange das Pferd sich noch
nicht wirklich sicher ist, was diese Hilfe bedeutet, reagiert es bloß
darauf, es antwortet nicht. Andererseits muss ein Pferd die Hilfen
auch respektieren. Ein von ständigem Treiben abgestumpftes,
schenkeltotes Pferd wird niemals Schwung zeigen.
Vor Jahren habe ich
einmal einen sehr hübschen schwarzbraunen Spanier geschenkt
bekommen, dessen Besitzer nicht mehr mit ihm zurecht kam. Die (leider relativ vielen) Reiter,
die ihn vorher gearbeitet hatten, hatten ihn vollkommen verdorben: Er
reagierte auf absolut nichts mehr, weder Schenkel noch Gerte noch
Sitz, man musste ihn mit den Sporen traktieren, um ihn überhaupt
vorwärts zu bringen - und das, obwohl er schon sehr weit ausgebildet
war! Manchmal blieb er auch ganz einfach stehen und reagierte auf gar
nichts mehr. Eine tickende Zeitbombe, denn der Hengst hatte immer
wieder versucht, sich auf die anderen Pferde in der Halle zu stürzen.
Meine Lehrerin und Freundin Sue Oliveira, Nuno Oliveiras
Schwiegertochter, hieß mich folgendes zu tun: Ich sollte die Zügel
aus der Hand geben und vor mir auf den Widerrist legen. Dann reichte
sie mir zwei Gerten, eine für jede Hand. Ich sollte völlig
entspannt mit ihm auf dem Hufschlag stehen und ihn einmal mit den
Schenkeln kurz zum Vorwärtsgehen auffordern – was er natürlich
vollkommen ignorierte. Sofort im Anschluss sollte ich mit beiden
Schenkeln und mit beiden Gerten gleichzeitig auffordern und
„Los!“. Mein Spanier schoss auch los, er war vollkommen
überrascht. Nach ein paar Metern Renngalopp lobte ich ihn
überschwänglich und parierte ihn mit der Stimme durch. Das Ganze
mussten wir beide nur noch einmal wiederholen – dann hatte mein
Hübscher begriffen: „Ach so, Schenkel heißt, vorwärts‘!“
Anschließend hatte ich nie wieder Probleme mit ihm, er antwortete auf das leiseste Schenkelsignal und entwickelte einen Schwung, der ganz außerordentlich war für einen Spanier. Mehr noch: Er hörte damit auf, in der Reithalle auf andere Pferde losgehen zu wollen. Wenn ich merkte, dass er mal wieder zu den anderen schielte, forderte ich ein wenig mehr Energie. Dann kehrte seine Konzentration zurück und seine Freude an der Bewegung. Ich rate jedoch: Unternehmen Sie diese Art des „Reset“ bei Ihrem Pferd nicht ohne professionelle Hilfe – es könnte für den Reiter sehr gefährlich werden, zumal Sie die Zügel dabei nicht einsetzen, ja nicht einmal in die Hand nehmen dürfen!
Zum Thema „Hilfen“ für
den Schwung. Nennen wir die sogenannten „Hilfen“ an dieser Stelle
einmal „Stichwörter“. Auf ein Stichwort folgt in der Regel der
Einsatz, nicht wahr? Entsprechend sollten Ihre Hilfen sein: Ein
Stichwort, auf den der Einsatz des Pferdes folgt. Das Pferd ständig
mit Hilfen „zuzuquatschen“ bewirkt, wie bereits erwähnt, dass es
nicht mehr auf seinen Reiter hört. Und das geht schneller, als es
einem lieb ist.
Je besser ein Pferd auf die Hilfen reagiert, umso größer wird sein Schwung. Wenn Sie fühlen, dass Ihr Pferd energielos tritt, fragen Sie mit einem kurzen Schenkelimpuls nach zwei oder drei Tritten vermehrter Energie – um es dann sofort mit dem Sitz und nicht mit den Zügeln (!) abzubremsen. Anders erklärt: Man braucht nur zwei oder drei Schritte im selben Gang, im selben Rhythmus, Tempo und Richtung, um die verlorene Energie wieder herzustellen.
Sie wissen, dass Sie es richtig gemacht haben, wenn:
die Tritte länger und erhabener werden
die Anspannung im Pferdkörper nachlässt
das Pferd gerader wird
das Pferd runder wird
das Pferd herzhaft abschnaubt
Wenn Sie dann absteigen würden, um Ihrem Pferd ins Gesicht zu sehen – dann würden Sie einen besonders lebendigen Ausdruck in seinen Augen finden. Tun Sie das doch mal. Steigen Sie sofort nach der Übung ab und schauen Sie Ihrem Pferd in die Augen. Sie werden staunen, was sie in diesen Augen finden.
"Liebst Du den Tanz? Das Pferd ist ein Tänzer an Deiner Hand, ein Tänzer in die Unendlichkeit. Aus dem Schwung, dem Du ihm mitteilst, folgt die Leichtigkeit, folgt das Schweben. Alle Kraft fühlst Du sich unter Deinem Sattel vereinigen.
Das Land bleibt hinter Dir zurück. Die
Welt fliegt an Dir vorüber. Dein Tänzer trägt Dich davon."
(Rudolf
Georg Binding, deutscher Schriftsteller, 1867 – 1938)
Schulterherein gegen den Nebel des Grauens
Von links: Eddy Willems, Kathrin Brunner-Schwer mit Graminho, Gonçalo
Oliveira mit Donizetti bei einer Vorführung in Neu-Anspach. Foto: Christiane Slawik
Von Kathrin Brunner-Schwer
Es war Ende der neunziger Jahre. Gonçalo Oliveira und ich hatten einen Auftritt bei der "Royal Horse Gala" im österreichischen Linz. Gonçalo Oliveira mit dem mausfalbenen Lusitanohengst Donizetti, der einmal seinem Großvater Nuno Oliveira gehört hatte. Ich auf meinem Vollblut-Araberhengst Graminho aus dem portugiesischen Nationalgestüt. Unser Pas-de-Deux saß, für uns kein Grund nervös zu sein. Wir hatten unsere Pferde zuvor in der kleinen Aufwärmhalle ein wenig gelockert, beide waren cool und ganz leicht in der Hand. Also warteten wir entspannt Seite an Seite auf unseren Pferden hinter dem riesigen Bühnenvorhang auf das Einsatzzeichen des Produktionsleiters. Wir hörten den Moderator sprechen und unsere Musik setzte ein. Dann öffnete sich der Vorhang ... und wir sahen ... nichts. In Bruchteilen von Sekunden waren wir vom beißenden Rauch einer Nebelmaschine umhüllt. Grelles blaues Licht von Scheinwerfern blendete uns schmerzhaft. Das weiße Zeug um uns herum war so dicht, dass wir nicht einmal mehr den Boden erkennen konnten – der Nebel des Grauens.
Genau so schnell wie mir die Augen zu tränen begannen verwandelte sich mein Graminho unter mir in einen soliden Betonklotz. Er schrie mich förmlich an: “Wenn du denkst, ich geh da jetzt raus, hast du dich geschnitten!”. Er fing an zu piaffieren und reagierte kein bißchen auf meine Aufforderung, doch bitte vorwärts zu gehen - “auf gar keinen Fall! Kannst alleine da rausgehen, ohne mich!”. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Gonçalo exakt dieselben Probleme mit Donizetti hatte. “Was ist das?” zischte Gonçalo – von Nebel und grellem Licht war weder bei den Proben noch sonst die Rede gewesen. Wir hatten keine Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir mussten da irgendwie rein, mehr als 3000 Zuschauer warteten auf das Pas-de-Deux. Das Intro unserer Musik sollte nur noch ein paar Sekunden laufen.
Gonçalo
und ich sprachen uns so schnell ab wie noch nie zuvor. Wir warfen den
Anfang der eingeübten Choreographie über den Haufen und richteten
die Pferde ins Schulterherein. Ganz dicht nebeneinander ritten wir in
Schulterherein im Nebel ungefähr dorthin, wo wir die Reitbahn
vermuteten.
Die ersten Meter war das Ganze noch eine reichlich verspannte Mischung aus Piaffe und Schulterherein – aber immerhin waren wir in dem Nebel auch kaum zu sehen. Hoffte ich. Erst ungefähr bei “X” lichtete sich die Sicht. Wir blieben nebeneinander auf der Mittellinie in Schulterherein, vier Schritte rechts herum, vier Schritte links herum, jeder eine Volte in Travers, dann wieder Schulterherein und so weiter. Als die Musik für die Trabsequenz wechselte, konnten wir im normalen Programm weitermachen – Donizetti und Graminho hatten losgelassen und konzentrierten sich. Was passiert war: die Produktion hatte sich kurzfristig entschieden, ihre nagelneue Nebelmaschine ausgerechnet bei unserem Pas-de-Deux einzusetzen. Doch irgend jemand hatte viel zuviel Nebelfluid zugeführt; das Gerät war explodiert.
Gerade in Ausnahmesituationen und einer ungewohnten Umgebung ist Losgelassenheit keine Selbstverständlichkeit. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man sich gerade auf einem gemütlichen Ausritt befindet („Oh nein! Ein Mähdrescher!“) oder bei einer Vorführung im Showring einer Pferdemesse mit extremem Lärmpegel, Kinderwagen mit rosa Schirmchen und wuselnden Menschen. Losgelassenheit ist das Resultat korrekter Arbeit. Und die wiederum basiert auf Vertrauen. Denn: unter Zwang funktioniert das nicht, jedenfalls nicht verlässlich.
Eine der beiden wichtigsten Übungen in der Kategorie "Hör auf mich, bleib bei mir" ist das Schulterherein. Es mag mittlerweile abgedroschen klingen – aber der Satz „das Schulterherein ist das Aspirin des Pferdes“ ist einfach wahr. Vielleicht sollte man ihn etwas moderner fassen: „Das Schulterherein ist das Ritalin des Pferdes“ (Ritalin ist ein Medikament, das bei ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung beim Menschen eingesetzt wird). Schulterherein ist das Top-Mittel bei Konzentrationsstörungen. Es wirkt sofort unter anderem auf Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sowie auf das Kreuzbein und damit die Hinterhand. Es veranlasst das Pferd dazu, die Bauchmuskulatur anzuspannen und den Rücken nach oben zu wölben sowie Gewicht auf die Hinterhand aufzunehmen. Das Pferd findet zurück zur Konzentration. Es wird ruhig und lässt los. Erst kürzlich wieder beklagte sich eine Reiterin bei mir über ihr Pferd, das beim Ausreiten nie an einer bestimmten Stelle des Zauns vom benachbarten Bauern vorbei gehen würde. Jedes Mal müsse sie absteigen und ihr tänzelndes Pferd daran vorbei führen. Ich riet ihr zu Schulterherein, ein paar Schritte rechts, ein paar Schritte links herum – schon bevor sie zu der Stelle kam. Zwei Wochen später rief sie mich an: Sie könne ihr Pferd nun am langen Zügel am Zaun vorbei reiten...
Fazit: Schulterherein beruhigt, entspannt und gymnastiziert. Es fördert die Logelassenheit und hilft im Übrigen auch dabei, das Pferd gerade zu richten.
Über die Psyche des Pferdes, die wir niemals erfassen können
Foto by kbs
Von Kathrin Brunner-Schwer
Dies ist die Geschichte eines sogenannten „Problempferdes“. Ein Paradebeispiel dafür, was dabei heraus kommen kann, wenn man ganz einfach Zeit investiert. Ein Paradebeispiel aber auch für die Tatsache, dass die Pferdepsyche unendlich viel komplexer ist, als wir uns jemals vorstellen können: Eine Geschichte, die Staunen macht.
Es war im Mai 1997 auf der Reitanlage von Luis Valenças „Centro Equestre da Leziria Grande“ in Vila Franca de Xira nördlich von Lissabon. Da stand er. Schwarz, dünn und kaum bemuskelt, ewig lange Beine. Mit einem braunen und einem blauen Auge, ein bißchen wie David Bowie. Er stand mitten auf dem Weg vor dem Eingang der Reithalle. Ilidio Simão, einer der jungen Bereiter von Valença, hatte ihn am Strick. Unter seinen schwarzen Locken schaute mir der junge Hengst unverholen ins Gesicht und fixierte meinen Blick. Das war's – Liebe.
Sein Name war „Judas“ (sprich „Schudasch“), er war fünf Jahre alt und gerade angeritten. Ich fragte Luis nach diesem Pferd. Er erzählte mir, dass er Judas nach England verkauft hatte und dass die Leute ihn nach zwei Monaten wieder zurückgegeben hatten, weil sie plötzlich festgestellt hätten, dass sie mit ihm nicht züchten konnten: In seinen Papieren steht „Cruzado Portugues“. Judas war zwar ein reiner Lusitano, nur war seine Mutter nicht als Zuchtstute eingetragen – deshalb fungierte er als „Cruzado“. Heute frage ich mich, wenn die Engländer mit ihm hatten züchten wollen, warum haben sie nicht vor dem Transport nach Großbritannien einen Blick in die Papiere mit seiner Abstammung geworfen? Merkwürdig.
Noch am selben Tag schaute ich zu, wie Ilidio in der kleinen Stierkampfarena des Centro Equestre Judas' Cowsense testen sollte: Ein junger Stier wurde herein gelassen... und Judas griff unmittelbar an. Ilidio, der ein hervorragender Reiter war, wurde bleich im Gesicht, denn er konnte den Schwarzen nicht wirklich kontrollieren, weil er noch keine Zügelhilfen kannte. Warum dieser Test? Der berühmte spanische Stierkämpfer, Stierzüchter und Sherry-Unternehmer Álvaro Domecq hatte ein Auge auf Judas geworfen und Luis gebeten, den Cowsense des jungen Hengstes zu testen.
Am Abend desselben Tages zuhause im Wohnzimmer der Valenças beobachtete mich Luis unentwegt. „Du bist so still, du bist verliebt“, lachte er schließlich und konstatierte: "Judas, nicht wahr?". Ich gab es zu und er sagte: „Ich möchte nicht, dass Judas zu Domecq geht. Nimm du ihn“. Und machte mir einen Preis für das Pferd, der einem Geschenk glich.
Der portugiesische Reitmeister machte mich allerdings noch auf etwas aufmerksam: Judas hatte extrem viel Veiga-Blut. Lusitanos aus der Zuchtlinie von Manuel Veiga gelten als besonders talentierte Stierkampf-Pferde. Mit ihrem konvexen Profil und dem sehr kompakten Körperbau entsprechen sie dem barocken Lusitano. Sie sind mutig und extrem auf den Menschen bezogen. Vor 25 Jahren galten sie als besonders schwierig – zu viel Inzucht hatte der Linie geschadet (das ist mittlerweile nicht mehr der Fall). Auch Judas war stark „ingezüchtet“: Seine Großväter mütterlicher- und väterlicherseits waren ein und derselbe Hengst: „Maravilha“, eine schwarze Stierkampflegende.
Einen Monat später kam Judas zusammen mit meinem Vollblutaraber Graminho, den ich von Luis' Tochter Luisa gekauft hatte, von Portugal ins Elsass, wo ich Anfang der 1990er Jahre meine kleine Lusitanozucht hatte. Judas benahm sich gut, lernte schnell und war im wahrsten Sinn des Wortes darauf erpicht, Freude zu bereiten. Mittlerweile nannte ich ihn „Juju“ (sprich „Schuschu“).
Alles war gut, bis wir in meine Reitanlage ars lusitana bei Rastatt umzogen. Mit Nuno Oliveiras Enkel Gonçalo Oliveira an meiner Seite und der väterlichen Hilfe von Luis standen in kürzester Zeit insgesamt 12 Hengste auf der Anlage, die Gonçalo ausbildete. Juju war einer von ihnen... und das (davon bin ich rückblickend überzeugt) gefiel ihm nicht... und ich erkannte es nicht. Obwohl er wie alle anderen Hengste jeden Tag ausreichend Koppelgang bekam und seine große Box in der Regel nur nachts bewohnte. Innerhalb kurzer Zeit wurde Juju zunehmend schwierig. Es fing damit an, dass er sich plötzlich nicht mehr longieren ließ. Sobald man ihn an der Longe auf die Zirkellinie schickte, legte er sich hin und blieb liegen. Er stand zwar wieder auf, wenn man es ihm sagte. Doch sobald man ihn wieder longieren wollte, lag er wieder. Beim Reiten wurde er zunehmend mißmutiger, ließ sich nicht mehr biegen und fing an mit Headshaking. Das Schlimmste war der Galopp: Es wurde lebensgefährlich, ihn zu galoppieren. Er ging regelmäßig durch, in der Halle, im Gelände, auf dem Platz. Mein schöner Juju wurde unreitbar. Überflüssig zu erwähnen, wieviele Tierärzte, Osteopathen und Heilpraktiker ich wegen Juju auf meinem Hof hatte – kein einziger konnte eine physische Ursache bei ihm finden. Zum Schluß sagte mir eine Kapazität auf dem Gebiet des Bewegungsapparats: „Eindeutig Kissing Spine. Vergessen Sie das Pferd“.
Einige Monate nach dieser verheerenden Diagnose (Juju verbrachte seine Tage auf der Koppel) nahm sich meine Freundin Regina meinem Pferd an. Meine Verzweiflung war groß – ihre Zuversicht aber größer. Sie ritt Juju zweimal die Woche 20 Minuten nur im Schritt, einfach geradeaus, ohne etwas zu verlangen. Und zwar ein ganzes Jahr lang. Wenn sie keine Zeit hatte, tat ich es. Wir wollten nicht aufgeben und hatten uns abgesprochen, dass wir einen kompletten „Reset“ versuchen wollten. Schließlich fingen wir mit der Gymnastizierung an: Schulterherein, Travers etc. - aber immer nur 20 Minuten. In kürzester Zeit setzte er wieder Muskulatur an, von Headshaking und Kissing Spine war keine Rede mehr. Erst nach einem weiteren halben Jahr begannen wir mit der Galopparbeit... und es gab nicht das geringste Problem mehr. Im Gegenteil: Zusammen mit Sue Oliveira begann ich, Juju sogar das Terre-à-Terre (Galopp auf der Stelle) beizubringen. Übungen aus der Working Equitation, einhändig mit der Stange, machten ihm besonderen Spaß. Und er wurde mein bestes Schulpferd.
Juju wurde 26 Jahre alt und lebte die letzten vier Jahre bei mir zuhause in Offenstallhaltung. Er spielte „Stierkampf“ mit meinen Hunden, betreute seinen kleinen Esel Doudou und galoppierte mit mir auf meinem 12 mal 25-Meter großen Reitplatz. Nachdem sein bester Freund, mein legendärer Araberhengst Graminho am 2. Juni 2017 im Alter von 29 Jahren aufgrund einer massiven Aortaklappen-Insuffizienz über den Regenbogen ging, folgte Juju im keine acht Wochen später am 31. August. Für mich unvermittelt, auf den ersten Blick unerklärbar (auch für die behandelten Tierärzte). Seltsam: nachdem Graminho gegangen war, verfiel Juju zusehends. Obwohl er weiterhin gut fraß und mit seinem Esel spielte...
Was ich mit dieser Geschichte sagen möchte? Die Psyche des Pferdes ist unendlich viel komplexer, als wir Menschen es jemals verstehen können. Sich dieser Tatsache jeden Tag, in jedem Moment im Umgang mit dem Pferd bewußt zu sein und ihr gerecht zu werden... ist die allergrößte Herausforderung, die es gibt.
Es ist nicht die Uhr, welche die Dauer einer Stunde bestimmt (…). Die Ausbildung eines Pferdes verlangt ein gerüttelt Maß an Überlegung seitens des Reiters, Überlegung, gefolgt von genauester Beobachtung des körperlichen und seelischen Zustandes des Pferdes, um festzustellen, woher bestimmt Widerstände stammen.
Nuno Oliveira in „Erinnerungen eines portugiesischen Reiters“, Olms Presse, 2000
Wenn aus Biegen Brechen wird
Foto: Nico Alexander
Von Kathrin Brunner-Schwer
Jedes Pferd ist schief. Das ist normal und kein Grund zum Drama. Wir Menschen sind es ja auch. Schief meine ich. Mit der richtigen Aufbau-Gymnastik lässt sich die natürliche Schiefe bei einem jungen Pferd schon von Beginn an weitestgehend korrigieren. Die Voraussetzung dafür ist aber das Gleichgewicht des Pferdes in der Horizontalen. Will heißen, dass es gerade geht und sich gleichmäßig ausbalancieren sowie Schubkraft entwickeln kann. Dass sein Hals gut bemuskelt und stabil ist. Denn der hat später großen Anteil an der korrekten Längsbiegung. Ohne Geraderichtung also ist nichts gewonnen. Es gibt keinen Schwung, keine Kadenz, keine Anlehnung und erst recht keine Biegung, von Versammlung ganz zu schweigen. Vor allem dann, wenn die natürliche Schiefe des Pferdes per Biegung ausgemerzt werden soll. Allzu oft wird dann aus dem Biegen ein Brechen.
Wir unterscheiden zwei verschiedene Biegungsebenen: die Längsbiegung und die Biegung (manche nennen es auch „Stellung“ oder „Beugung“) im Genick. Beide sind unmittelbar miteinander verknüpft. Eigentlich ist der Ausdruck „Längsbiegung“ nicht ganz korrekt. Denn wie hinlänglich bekannt ist, lässt sich die Wirbelsäule einer halben Tonne schweren Körpermasse wie die des Pferdes nicht verbiegen. Sie lässt sich allenfalls krümmen. Der Gymnastikeffekt dieser Stellung ist die Dehnung der jeweiligen Außenseite. Das innere Hinterbein tritt vermehrt unter und nimmt Gewicht auf, der innere Zügel wird automatisch leichter. Die relativ kurzen Kopf- und Halsmuskeln werden sanft gedehnt und das Pferd beginnt, seinen Hals zu biegen und sein Genick zu beugen: All das – nennen wir es die sanfte Krümmung – hilft schon zu Anfang, Widerstände zu überwinden, das Pferd zu lösen und die Geraderichtung zu verbessern. Zuerst an der Longe auf dem Zirkel, später unter dem Reiter. Nuno Oliveira und Gustav Steinbrecht haben stets klar formuliert, dass die heutzutage „allzu beliebte Genickrundung“ (Stichwort Rollkur) bei der Ausbildung denkbar unerwünscht ist.
Die sanfte Biegung auf dem Zirkel wird - wie später auch die stärkere - nicht, ich wiederhole nicht, mit dem inneren Zügel geritten. Damit erreicht man exakt das Gegenteil von dem, was man eigentlich möchte – nämlich ein gerades, leicht gekrümmtes Pferd, das Takt, Kadenz und Schwung zeigt. Wer am inneren Zügel zieht, bekommt Widerstand: ein steifes Genick, einen unnachgiebigen Rücken und starre Hanken. Der innere Schenkel macht die Biegung. Er liegt vorne in der Nähe des Sattelgurts. Der äußere Schenkel liegt eine Handbreit zurück, er begrenzt. Die Schultern des Reiters befinden sich in der Achse des Pferdes, will heißen, die äußere Schulter wird vor genommen. Der äußere Zügel hat steten Kontakt, der innere ist sehr weich und darf sich auch mal öffnen, um Stellung zu geben – aber ohne Zug auszuüben! Nur auf diese Weise erreichen wir die sanfte Dehnung der Außenseite bei gleichzeitiger Entspannung der Inneren: Das Pferd lässt innen los.
Die
gerittene, stärkere Biegung ist die Vorbereitung zur Versammlung.
Denn je stärker die Biegung umso mehr wird das Pferd das jeweilige
innere Hinterbein untersetzen und Tragkraft entwickeln. Das Ganze
muss allerdings in einem langsamen, kadenzierten Schritt geritten
werden, weil das Pferd dabei seine Gelenke biegen muss. Volten,
Schulterherein und Travers sind die Mittel der Wahl.
Ach ja, das Schulterherein: Anders als in der deutschen klassischen Lehre, bei der der Hals des Pferdes in dieser Lektion gerade bleibt, ist das Schulterherein bei Oliveira eine komplett gebogene Übung. Zitat: „Es geht nicht so sehr darum, dass das Pferd seitwärts tritt, sondern gebogen“ (Nuno Oliveira, „Notizen zum Unterricht“, Seite 63, Olms Verlag 1998). In logischer Kosequenz daraus – nämlich dass hierbei auch der Pferdehals leicht gebogen wird – lehrte Oliveira das Schulterherein auf vier Hufschlägen. Daraus resultiert wiederum eine andere logische Kosequenz: Mit einer solchen Biegung im Schulterherein setzt das Pferd das innere Hinterbein stärker unter seinen Schwerpunkt, also nach unten und nach vorn. Für den Rumpf bedeutet das: Stretching außen, Entspannung innen. Kontrolliert wird dabei die äußere Seite über den äußeren Zügel und den leicht nach hinten angelehnten äußeren Schenkel. Der innere Schenkel – klar – ist vorne am Sattelgurt.
Der Reiter sitzt dabei immer in der Mitte des Pferdes – und jetzt kommt das, was dem widerspricht, was wir in deutschen Reitschulen gelernt haben: Der Reiter verlagert sein Gewicht ein kleines bißchen nach außen, in den äußeren Steigbügel. Sagen wir, in Form von etwa einem Pfund Butter. Warum?
In unseren deutschen Reitschulen wird gelehrt, das Reitergewicht in den Seitengängen nach innen zu verlagern, um das Pferd nach außen zu drücken. Jetzt mal im Ernst: können Sie mit Ihrem Sitzgewicht ein seitwärts gehendes, gebogenes Pferd von einer halben Tonne Körpermasse „weg drücken“? Das können Sie nicht. Nicht einmal Arnold Schwarzenegger hätte das gekonnt. Folge dieser Art von „Gewichtsverlagerung“: Das Pferd fällt in der Schulterherein nach innen, es gibt Widerstand, die Lektion wird für den Reiter richtig schwer zu reiten. Belastet man hingegen die äußere gebogene Seite im Schulterherein mit ein klein wenig Gewicht (ohne nach außen zu hängen!), erleichtert man es dem Pferd ganz erheblich, unter seinen Schwerpunkt zu treten. Versuchen Sie das mal an einem Menschen: Nehmen wir an, er soll einen Schritt nach rechts machen. Drücken Sie ihm an die linke Schulter, bekommen Sie unweigerlich Gegendruck von ihm, bis er schließlich nach rechts stolpert. Drücken Sie ihm dagegen mit der Hand auf die rechte Schulter, so dass es sie senkt und mehr Gewicht rechts empfindet - wird dieser Mensch mit Leichtigkeit einen kreuzenden Schritt nach rechts machen. Mit dieser einfachen Demonstration habe ich schon viele Reitschüler überzeugt.
Ballett oder Bodenturnen?
Foto: Ilona Kirsch
Von Kathrin Brunner-Schwer
Anlehnung ja oder nein? Hohe Hand oder tiefe Hand, konstante Verbindung oder durchhängende Zügel, die Zügel als „fünftes Bein“ des Pferdes – Anschauungen, die von Fall zu Fall ihre Berechtigung haben mögen. Die Frage ist doch: Welches Ziel habe ich? Möchte ich hundert Punkte auf einem Turnier dafür, dass mein „Kreuz“, meine Hände und Beine immer ordentlich „dran“ sind? Oder möchte ich, dass sich mein Pferd irgendwann in der perfekten Versammlung schwungvoll selbst trägt – ohne jegliche Einwirkung des Reiters von oben? Letzteres ist das Ziel der klassischen französischen Schule. Es nennt sich „La Descente de Main et de Jambes“.
„La Descente de Main et de Jambes“ kann man im Deutschen etwa mit dem „Sinkenlassen der Hand und der Beine“ übersetzen. Es ist die vollständige Aufgabe der Kontrolle über das Pferd, während es selbstständig weiter arbeitet. In Schritt, Trab oder Galopp, bei den Seitengängen, in der Passage oder der Piaffe senkt der Reiter Unterarme und Hände in Richtung Pferdeschulter, so dass die Zügel durchhängen, die Beine haben keinen Kontakt zum Pferd, es gibt nicht die leiseste Anlehnung – weder am Zügel noch am Bein. Wenn das Pferd dabei in seiner Versammlung bleibt, seinen Takt, die Stellung und den Schwung nicht verliert, dann spricht man von einer „Descente de Main et de Jambes“.
Es ist keine Übung, sondern ein Zustand – der Idealzustand von Leichtigkeit. Und die ist nicht nur die Maßeinheit, wie wenig sich ein Pferd auf den Zügel legt. Leichtigkeit bedeutet auch ein Pferd zu haben, dass schwungvoll und kadenziert mitmacht, ohne dass der Reiter intervenieren muss – sei es mit dem Sitz, der Hand oder dem Bein. Und weil dieser Idealzustand auch durchaus eine Belohnung für das Pferd ist, weil der Reiter ihm nicht ständig mit den Hilfen kommt, lernt es, auf weniger Hilfen feiner zu reagieren. Allerdings begibt sich der Reiter mit der „Descente de Main et de Jambes“ auch in eine sehr verletzbare Position, weil er nicht agiert und somit nicht reagieren kann. Kontroll-Freaks werden ihre Schwierigkeiten damit haben.
Man beginnt zuerst mit der Hand und senkt den inneren Zügel – erst gerade, im Schritt. Bleibt das Pferd bei seinem Reiter, senkt man auch die Hand mit dem äußeren Zügel. Es ist völlig normal, dass das anfangs nur für ein paar Sekunden klappt, bevor sich das Pferd seiner Freiheit bewußt wird oder seine Balance verliert und auseinander fällt. Dann ist es immens wichtig, es mit den Korrekturen nicht zu überfallen, sondern die Zügel sanft wieder aufzunehmen. Doch wenn es vorher – nehmen wir hier als Beispiel ein Schulterherein - korrekt um den inneren Schenkel gebogen ist und am äußeren Zügel steht, werden sich die Intervalle einer „Descente de Main“ verlängern. Anschließend, wenn das Senken beider Hände klappt, folgt die „Descente de Jambes“: die Beine weg vom Pferd. Der Sitz bleibt gerade, die Taille entspannt. Wichtig: man muss fühlen, wenn das Pferd dazu bereit ist, wenn Schwung und Stellung stimmen – um dann vorsichtig und langsam immer mehr loszulassen.
Meiner persönlichen Ansicht nach gibt es noch einen weiteren Aspekt: Das Ganze wirkt sich äußert positiv auf das gegenseitige Vertrauensverhältnis aus. Der Reiter lernt sein Pferd viel besser kennen, er lernt, was er in der Vorbereitung richtig oder falsch gemacht hat wie beispielsweise zu viel oder zu wenig Anlehnung, zu viel oder zu wenig Schwung, zu viel oder zu wenig Stellung. Und das Pferd wiederum lernt, seinem Menschen zu vertrauen, der ihm freie Hand gibt, wenn der perfekte Moment gekommen ist: Es wird sich in ein stolzes Pferd verwandeln, das Freude empfindet – ich erlebe es immer wieder. Insofern ist das Senken von Hand und Beinen vielleicht doch als eine gewisse „Übung“ zu bezeichnen - nämlich als psychologische.
„Das Sinkenlassen von Hand und Bein ist der Prüfstein wahrer Versammlung“ (Nuno Oliveira in „Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden“, Olms Presse 1996). Eins steht fest: mit einer „Descente de Main“ wird man bei einem Turnier nicht mal einen Blumentopf gewinnen. Denn es ist Ballett. Und kein Bodenturnen.
Das System oder: Warum 'Bunker' Oliveiras Meisterwerk war
Von Kathrin Brunner-Schwer
Systeme sind praktisch. Sie helfen dem Menschen beim Lernen, beim Verstehen, bei der Umsetzung von Abläufen. Systeme erleichtern dem Menschen das Leben. Dem Pferd aber erschweren sie das Leben. Systeme behindern das Pferd, zwängen es ein. Es stellt sich die Frage: Käme der Reiter ohne starres System weiter?
„Der Ecuyer (der Reiter), der wahre, ist keinem System oder irgendeinem Regelment unterworfen, er muß wissen, dass verschiedenste Wege alle nach Rom führen können“, schreibt Nuno Oliveira in seinem Buch „Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden“ (Olms Presse 1996). „Ausbildungs-Skala“, „Schematik“ oder „Methode“ - Oliveira folgte nie einem System, so wie es in Mitteleuropa gerne propagiert wird. Und kritisierte sogar diejenigen, die von seiner Methode als „Oliveira-Methode“ sprachen: „Ich habe keine Methode und es existiert kein Oliverismus!“ betonte er immer, „denn jedes Pferd ist ein Fall für sich.“ Eine Einstellung, die im übrigen auch Luis Valença, Portugals großer Reitmeister aus Vila Franca de Xira, vertritt. „In dem Moment, wo der Reiter auf irgendeinem System beharrt, hat ein Pferd schon verloren“, sagte Luis einmal zu mir, „denn dann beginnt der Zwang. Und Zwang ist genau das, was wir nicht wollen.“
Nuno Oliveira folgte bei seiner Arbeit mit den Pferden keinem System, aber natürlich folgte er klassischen Regeln und Prinzipien. Seine waren folgende: gerade, vorwärts, leicht, Balance und Schwung. Ungeheuer belesen in der gesamten Reitliteratur der letzten Jahrhunderte nahm er aus jedem Werk der alten Meister das, was ihm selbst plausibel erschien. Statt mit System ritt er mit Logik: Er folgte der Psycho- und Physiologik des Pferdes. Dabei forderte er viel von seinen Pferden, ohne sie jedoch zu überfordern oder sie zu zwingen. Sue Oliveira sagte immer: „Mein Schwiegervater verhandelte mit seinen Pferden, er überzeugte sie von seiner Sache und formte sie“.
Ein von Nuno Oliveira durch und durch überzeugtes und geformtes Pferd war sein legendärer Budjonny-Hengst Bunker. Der im Vergleich zu Lusitanos große, lange und hagere Fuchs mit der markanten Blesse verbrachte seinen Lebensabend auf meiner damaligen Reitanlage im Südwesten Deutschlands nahe Baden-Baden. Nunos Enkel Gonçalo Oliveira hatte ihn von seinem Großvater geerbt und aus Portugal mitgebracht. Bunker war alles andere als eine Schönheit: steile Schulter, steile Hinterhand, langer Rücken, dünner Hals, großer Kopf und alles in allem ein eher schlaksiger Typ. Im Umgang war Bunker extrem hengstig, man musste ständig auf der Hut sein, vor allem wenn andere Pferde in der Nähe waren – und das läßt sich auf einer Reitanlage kaum vermeiden. Als wir ihn 1996 auf die Eurocheval nach Offenburg mitnahmen, wo Gonçalo eine Vorführung reiten sollte, zerlegte der Hengst zweimal seine Box, so dass die Messehalle für den Publikumsverkehr gesperrt werden musste.
Aber geritten … geritten war dieses Pferd eine Offenbarung! Bunker war die Essenz all dessen, was Nuno Oliveira jemals geschrieben, gelehrt und praktiziert hatte. Bunker war Nuno Oliveiras Meisterwerk.
Der Budjonny-Hengst konnte alles: Schulschritt, Spanischer Schritt, Spanischer Trab, endlose Einerwechsel im Galopp, Pirouetten auf der Fläche eines Suppentellers, Passage und Piaffe wie aus dem Bilderbuch, Zickzack-Traversalen in vollendeter Passage. Zudem schien Bunker - trotz seines wirklich unvorteilhaften Gebäudes - die Arbeit auch noch Freude zu bereiten. Ich durfte ihn reiten und hatte dabei jedesmal das Gefühl, dass etwas in ihm vibrierte, er schien stolz zu sein. Andere Pferde in der Reitbahn und sogar Stuten interessierten ihn dann überhaupt nicht mehr. Dazu kam: Bunker war der beste Reitlehrer der Welt. Zuviel Hand, zuviel Bein, eine falsche Gewichtung vom Reiter – und Bunker gab zu verstehen „so funktioniert das nicht. Ich weiß zwar, was du willst, aber ich mach's trotzdem nicht. Denn du machst da oben viel zu viel.“
Bunker war 15 Jahre alt, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Und diesem 15-jährigen Pferd tat nichts weh. Er lahmte nie, er zeigte nirgendwo eine Steifheit oder irgendeine Art von Verschleiß. Das einzige, was man bei Bunker als Reiter in der Hand fühlte, war das Gewicht der Lederzügel, sonst nichts. Nuno Oliveira hatte den jungen Budjonny-Hengst in Belgien gekauft. „Alle, die damals Zeugen der Wahl meines Großvaters waren, trauten ihren Augen nicht, als er sagte, er wolle genau dieses Pferd“, erzählt Nunos Enkel Gonçalo, „es wurde hinter vorgehaltener Hand über ihn getuschelt, dieser Mann würde ja so gar nichts von Pferden verstehen, dass er gerade dieses steife Jungpferd haben wollte!“ Und so wurde dieses Pferd zum lebenden Beweis für Oliveiras (auch in seinen Büchern immer wiederholten) Behauptung, dass Systeme beim Reiten nicht existieren sollten. Gonçalo: „Mein Großvater arbeitete bei Bunker mehr als bei anderen Pferden nach Baucher's Prinzip der Flexionen, also der Beugung und Dehnung. Er arbeitete Bunker nicht nach einem System, sondern nach dem, was das Pferd brauchte. In jeder Sekunde, bei jeder gymnastizierenden Übung, jederzeit.“ Und auch Gonçalo, der seit einigen Jahren in der Nähe von Mailand lebt, Reitschüler unterrichtet und Pferde ausbildet, sagt: „In dem Moment, wo ein Reiter systematisch vorgehen will, hat er schon verloren. Denn dann rennt er gegen eine Wand aus Stein“.
„Heutzutage betrachtet man mit Verachtung bestimmte, in ihrem Körperbau auf den ersten Blick weniger gut ausgestattete Pferde (...) und lehnt sie ab. Man kennt ein System, man möchte es bei einem Pferd anwenden, welches 'unverzichtbare' Qualitäten in sich zu vereinen scheint. Wenn aber ein Reiter sein Pferd zu lieben und dessen Vermögen zu verwerten weiß, wenn er sich auf alles, was die wahren Reiter während der Jahrhunderte geschrieben haben stützt, (…) wird er feststellen, dass viele dieser Pferde, welche man für schlecht hält, sich großartig verbessern und zuweilen wirklich gut werden“.
Nuno Oliveira, „Ratschläge eines alten Reiters an junge Reiter“, Olms Presse 1999
Ein Plädoyer für das gerade Pferd
Von Kathrin Brunner-Schwer
Wir können tausend Reitstunden nehmen, tausend Bücher lesen, auf Facebook Rat suchen und jede Menge gymnastizierende Übungen reiten – ohne ein gerades Pferd werden wir keinen Schritt weiter kommen. Keinen einzigen. Schwung, Kadenz und Losgelassenheit finden wir nur bei einem geraden Pferd. Anders als die FN in ihrer Skala der Ausbildung stellte Nuno Oliveira die Geraderichtung an die erste Stelle der Reihenfolge der wichtigsten Prinzipien des Reitens. Warum? Ein Plädoyer für das gerade Pferd.
Es ist wie bei vielen anderen Dingen des Lebens auch: Wir haben ein wie auch immer geartetes Problem, wir zermartern uns den Kopf und suchen Lösungsansätze. Dabei verlieren wir das Naheliegende aus dem Blick - jene elementare Regel, die die Lösung eigentlich auf dem Silbertablett serviert. Genau das kann auch beim Reiten passieren. Da wird getüftelt, gegrübelt, gerätselt, denn „mein Pferd hat ein Problem“. Doch das Offensichtliche sieht fast niemand: Mein Pferd ist schief! Ein schiefes Pferd ist ein nicht ausbalanciertes Pferd. Es wird hart im Maul und widersetzt sich. Es zeigt keinen Takt, keine Losgelassenheit, hat keine Anlehnung und keinen Schwung (Punkte eins bis vier in der Ausbildungsskala der FN). Dabei könnte alles so einfach sein – wenn Sie (und damit Ihr Pferd) in der Spur bleiben.
Angenommen, Pferd „X“ ist links steif beziehungsweise rechts hohl. Es legt sich auf den linken Zügel und ist auf dieser Seite schwer zu stellen und/oder zu biegen. Höchstwahrscheinlich reißt „X“ dann auch noch den Kopf hoch und wehrt sich gegen die Reiterhand. Höchstwahrscheinlich hat es auch noch Probleme, links korrekt anzugaloppieren. Außerdem fühlt sich der Reiter vermehrt auf die rechte Seite des Pferdes gesetzt. Und je mehr er versucht, dem (meistens durch Kraft im linken Zügel) etwas entgegenzusetzen, umso schlimmer wird es. Warum? Zusammengefasst kann man es folgendermaßen erklären: Weil die Hinterbeine nicht gleichmäßig treten und gleichmäßig Tragkraft entwickeln. Das linke Hinterbein tritt nicht weit genug nach vorne unter den Schwerpunkt, es trägt nicht. In Folge dessen ist das Becken schief, die rechte Pferdehüfte befindet sich jetzt vor der linken. Das linke Hinterbein kann die linke Schulter nicht mehr genug unterstützen, deshalb legt das Pferd zu viel Gewicht auf das linke Vorderbein – es lehnt auf den linken Zügel. Also driftet die Hinterhand nach rechts. Das kann sogar so weit führen, dass sich die Rückenmuskulatur auf der linken Seite des Pferdes stärker entwickelt als auf der rechten und den Reiter auf die rechte Seite „setzt“. Der wiederum versucht die Fehlstellung zu kompensieren, indem er sich mehr nach links setzt und dabei unweigerlich die Hüfte verdreht. Das führt zum stärkeren Zug am linken Zügel... der das linke Hinterbein des Pferdes noch mehr blockiert. Es tritt hinten links noch kürzer und verschlimmert das Ungleichgewicht. Es stützt sich schwerer und schwerer auf den linken Zügel.
Ausnahmslos und jedes Mal, wenn ich irgendwo einen Reitstall besuche, sehe ich schief gerittene Pferde. Sie sind sehr oft mit diesen „praktischen“ Hilfsmitteln aus dem Pferdesportbedarf ausstaffiert, die Abhilfe bei multiplen Reitproblemen verheißen: Schlaufzügel, Stoßzügel, Halsverlängerer, Chambon, Martingal ... Und diese Pferde, die ich sehe, sind schief, gerade weil sie mit diesen Instrumenten verschnallt sind. Da will man „den Kopf runter“ haben, die „Hinterhand aktivieren“ und weiß Gott noch was. Aber niemand achtet darauf, ob das Pferd überhaupt gerade läuft! Fakt ist: Kein Hilfszügel der Welt kann irgendetwas „helfen“, wenn es an der Basis hapert. Hilfszügel sind immer mit Zwang verbunden und schon Nuno Oliveira sagte: „Unter Zwang geht kein Pferd auf einer geraden Linie“.
Schon ein halber Zentimeter Schiefe in der Längsachse des Pferdes bewirkt den Verlust von Schwung, Leichtigkeit und Durchlässigkeit. Meine Lehrerin und Freundin Sue Oliveira, Nuno Oliveiras Schwiegertochter, wurde nie müde, immer und immer wieder darüber zu referieren. „Reite dein Pferd gerade, dann ist der Rest einfach“, sagte sie hunderte Male. Und bezog sich damit auf ihren Schwiegervater Nuno: „Ohne ein gerades Pferd ist Leichtigkeit unmöglich. Deshalb ist die Geraderichtung allem anderen übergeordnet“. Das erste, was sie jedes Mal tat, wenn eine neue Schülerin oder ein neuer Schüler zum Unterricht kam: Sie stand von ihrem Sitz auf der Tribüne auf und ging in die Reitbahn, um auf dem Hufschlag stehend das jeweilige Pferd von hinten auf seine Geraderichtung zu überprüfen. „Perfektion erreicht man nicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern erst dann, wenn sich nichts mehr entfernen lässt“, zitierte Sue in diesem Zusammenhang dann Antoine de Saint-Exupéry.
Selbstverständlich kann nur ein gerader und entspannter Sitz beim Geraderichten helfen. Und natürlich haben sowohl Pferd als auch Reiter von Natur aus eine starke und eine schwache Seite. Auf der Starken fühlen sich beide wohler als auf der Schwachen. Es liegt in der Verantwortung des Reiters, die schwache Seite seines Pferdes zu erkennen und dessen Gleichgewicht zu trainieren – wie es auch in seiner Verantwortung liegt, seine eigenen Schwachstellen zu erkennen und auszumerzen. Schon minimal ungleiche Bein- oder Zügelhilfen beispielsweise haben ein schiefes Pferd zur Folge.
Wie also können wir erkennen, wann unser Pferd schief ist? Ein wirklich gerades Pferd
ist nicht nur zwischen Vor- und Hinterhand, sondern auch bis zu den Ohren gerade;
legt sich weder auf einen noch auf beide Zügel;
bleibt in seiner Kadenz;
entwickelt mühelos mehr Schwung, wenn es danach gefragt wird;
kann von der Mittellinie sofort nach rechts oder links auf eine Volte abwenden, ohne dass in der Biegung die Hinterhand die Spur der Vorhand verlässt. Wichtig: dabei muss der Reiter fühlen, dass es auf der einen Volte nicht mehr Widerstand gibt als auf der anderen. Gleiches gilt für die Schlangenlinien durch die ganze Bahn.
Luis Valença, Portugals großer Reitmeister aus Vila Franca de Xira, gibt darüber hinaus noch den folgenden Tipp: „Man fixiert seinen Blick auf den Mittelpunkt zwischen den Ohren des Pferdekopfes. Dann verlängert man den Blick in einer geraden Achse bis zum Ende der Reitbahn. Sie wissen sofort, ob Ihr Pferd gerade ist. Das hilft auch dabei, es wieder gerade zur richten“.
Ein weiterer Tipp: wenden Sie ab auf die Mittellinie. Grundsätzlich wird das Reiten auf der Mittellinie viel zu sehr vernachlässigt. Dabei ist die Mittellinie geradezu prädestiniert dazu, die Geraderichtung zu überprüfen und zu trainieren. Außerdem macht diese Bahnfigur Ihr Pferd viel aufmerksamer. Gleiches gilt auch für das Reiten auf dem zweiten beziehungsweise dritten Hufschlag – ohne Anlehnung an die Bande. Wenden Sie also ab auf die Mittellinie und reiten Sie in Richtung des Spiegels, der meistens über einer kurzen Seite hängt; falls der Spiegel an einer langen Seite hängt, wenden Sie an der langen Seite ab. Halten Sie gleichmäßigen, leichten Kontakt in beiden Zügeln und reiten Sie gerade auf den Spiegel zu, schauen Sie nicht auf Ihr Pferd, sondern auf dessen Spiegelbild. Atmen Sie aus, sitzen Sie gerade. Wenn Sie sich besonders schonungslos überprüfen wollen, nehmen Sie die ersten paar Male die Füße aus den Steigbügeln, Sie werden sich wundern, wie schwierig es ist, ihr Pferd wirklich geradezurichten. Lassen Sie sich nicht frustrieren, wenn Ihr Pferd schief und wackelig auf dieser Linie läuft. Je mehr Sie üben, umso besser wird es, versprochen. Reiten Sie diese Übung im Schritt, Trab und Galopp, viele Male und jedes Mal, wenn Sie Ihr Pferd arbeiten.
Eine direkt gymnastizierende Übung, um ein schiefes Pferd gerade zu richten, ist in jedem Fall auch das Schulterherein. Erst auf einem großen Zirkel, dann auf einer Volte. Reiten Sie es möglichst immer vordergründig mit dem inneren Bein und dem äußeren Zügel, Ihre Schultern parallel zu den Schultern des Pferdes. Schulterherein dehnt verkürzte Muskelpartien des Rückens und der Hinterhand und entkrampft das Pferd. Nach einer Runde Schulterherein werden Sie Ihr Pferd sehr viel leichter gerade auf die Mittellinie zurück bringen können. Eine effektive Korrektur zum Geraderichten auf dem Hufschlag ist auch folgende Übung (Beispiel links steifes Pferd): Nehmen Sie zusammen mit Ihren Schultern beide Hände mit den Zügeln kurz nach links. Auf diese Weise führen Sie die Pferdeschulter weg von der Wand – das Pferd muss das linke Hinterbein mehr unter den Schwerpunkt nehmen. Geben Sie sofort nach, wenn Sie fühlen, dass das Pferd nun gerade läuft. Das funktioniert in allen drei Grundgangarten.
Achten Sie also auf die Basis. Denn nur ein gerades Pferd ist entspannt und ein entspanntes Pferd geht gerade.
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Die Motivation oder: Der Schlüssel zur Lust ist Freude
Von Kathrin Brunner-Schwer
In Beziehungen gibt es immer mal Probleme. Das haben Beziehungen so an sich. Auch in der Pferd-Mensch-Konstellation. Mal hat der eine, mal der andere keinen „Bock“, schlechte Laune, einen blöden Tag, eine Laus auf der Leber. Das Leben ist nicht immer „Légèreté“. Oder vielleicht doch?
Bei der Recherche für diesen Beitrag stieß ich im World Wide Web auf 381.000 Einträge zum Suchbegriff „Motivation Reiten“. Da stehen dann Statements wie "dabei reite ich eigentlich gerne, aber meine Stute ist manchmal so schlimm, dass gar nichts mehr geht und ich befürchte, dass es daran liegt, dass ich immer mehr die Lust verliere. Ich bin schon richtig froh, wenn irgendwas an Stallarbeit anliegt, oder wir nur den Hänger mit Mist wegfahren müssen... Schlimm..."Ich könnte hier eine Liste des Elends aufführen – ersparen wir uns die Depression. Das Thema scheint so groß, dass man Lösungsansätze dafür sogar kaufen kann. Da gibt es beispielsweise (und nicht zu knapp) Workshops gegen das „schlimm“: „Mit den hier vorgestellten mentalen Methoden und Techniken wird sich deine Motivationsentwicklung enorm beschleunigen, weil du dich auf die Jagd nach ständiger Verbesserung begibst.“ 220 Euro für zwei Tage.
Ich
weiß genau, wie das ist, wenn die Motivation fehlt. Ich war auch an
diesem Punkt. Vor drei Jahrzehnten habe ich das Reiten deswegen beinahe
aufgegeben. „Ganze Abteilung im Arbeitstempo Terab“: ätzend.
Immer nur Ausreiten: ätzend. Natural Horsemanship mit Klaus-Ferdinand Hempfling: gar nicht
überzeugend (ja, ich gebe zu, dass ich mich einmal für diese
„Richtung“ interessiert hatte – aber nur kurz).
Es musste noch etwas anderes geben. Das „andere“ entdeckte ich in Frankreich, wo die klassischen Lehren der alten Meister lebendiger waren als es Anfang der 1990er Jahre in Deutschland der Fall war. Genauso wie der Name Nuno Oliveira. Und da war sie dann, die Motivation, die ich seither nie wieder vermisst habe. Und meine Pferde genauso wenig. Es war eine andere Welt: Mit dem Pferd anstatt gegen das Pferd, Gymnastizierung für die Leichtigkeit, die höheren Lektionen wie Piaffe und Passage nicht als Ziel, sondern als Weg. Und um diesen Weg dreht sich alles: Reiten als „Mitmachaktion“, die beiden daran Beteiligten Freude und Motivation bringt.
„Und?
Was machen wir heute?“ - wenn Ihr Pferd Sie mit gespitzen Ohren
danach fragt, sobald Sie im Stall sind, dann gibt’s keine Probleme
mit der Motivation. Es sei denn, Sie reiten immer auf dem gleichen
Thema herum. Will heißen, Abwechslung ist auch ein Schlüssel zur
Motivation. Sogar bei Oliveira. Nach jedem ihrer dreitägigen
Intensivkurse auf meiner ehemaligen Reitanlage wies Sue Oliveira jede
Teilnehmerin und jeden Teilnehmer am Ende darauf hin: „Die
nächsten Tage lässt du dein Pferd bitte in Ruhe. Lass
es auf der Koppel oder geh mit ihm ausreiten. Mach was komplett anderes! Wir haben drei Tage
trainiert und gelernt. Lass dein Pferd darüber nachdenken und
überfordere es nicht!“
Zuviel des Guten macht sauer. Übungsreprisen dürfen immer nur kurz
sein. Und wenn an einem Tag etwas mal nicht klappt, dann klappt es
eben an einem anderen Tag. Punkt.
Ein paar Vorschläge, mit denen Sie die Freude zurück holen:
Abwechslung: Spielen, Ausreiten, Bodenarbeit, Handarbeit, Cavaletti, Ballspielen, Freispringen – es gibt so viele Alternativen zur täglichen Arbeit.
Übungseinheiten und Reprisen kurz halten: Zuviel von immer demselben macht sauer. Das gilt für beide Parteien in der Beziehung.
Wenn etwas Neues geklappt hat – und sei es nach nur fünf Minuten: Überschwänglich loben, sofort absteigen. Die Motivation Ihres Pferdes am nächsten Tag wird enorm sein. Garantiert!
Lassen Sie Ihr Pferd auch mal Pferd sein: Zwei, drei, vier Wochen nur Koppel zusammen mit den Kumpeln wirken sehr oft Wunder.
Und wenn Sie selbst mal aus irgendwelchen Gründen schlecht drauf sind, Ihre Probleme im Büro etwa mit in den Stall nehmen und keine Lust haben: Lassen Sie es, reiten Sie nicht, es macht keinen Sinn. Gehen Sie mit Ihrem Pferd spazieren oder grasen. Ohne Ihre hundertprozentige Hingabe wird Ihr Pferd an diesem Tag ein unzufriedenes sein.
Es ist im Übrigen nicht immer so, dass Sie Ihr Pferd motivieren müssen. Manchmal motiviert Ihr Pferd nämlich auch Sie. Das geschieht dann vor allem an den Tagen, an denen Sie sich nichts Besonderes vorgenommen haben. Sie müssen nur mal „zuhören“. Pferde machen auch Vorschläge. Klar sollte dieser Vorschlag nicht in wilder Bucklerei münden oder in einen beherzten Biss in den Po des anderen Pferdes in der Reithalle. Wenn Sie es jedoch stolz gemacht haben auf etwas, das Sie ihm beigebracht haben, wenn Sie ihm also manchmal erlauben, Erlerntes ungefragt zu zeigen, weil es sich über Ihr Lob so sehr freut, dann wird Ihr Pferd diese Partnerschaft auf Dauer sehr zu schätzen wissen. Ein alter deutscher Reitlehrer namens Norbert Sauer gab mir einmal diesen Tipp – er wirkt manchmal Wunder. „Der Schlüssel zur Lust ist Freude“, unkte er oft.
Pferde wissen viel besser über uns Bescheid, als wir uns vorstellen. Mehr noch: Sie können sogar die menschliche Mimik deuten. Das haben Forscher in einer Studie erstmals nachgewiesen. Verhaltensforscher um Professor Karen McComb und Amy Smith von der Mammal Vocal Communication and Cognition Research Group an der University of Sussex berichteten im Februar 2016 im Fachjournal Biology Letters (DOI: 10.1098/rsbl.2015.0907) darüber, wie 28 unterschiedliche Pferde auf Fotos von Menschen mit positiven und negativen Gesichtsausdrücken reagierten.
Amy Smith ist Doktorandin der Mammal Vocal Communication and Cognition Research Group (Forschungsgruppe für Säugetier Vokalkommunikation und Wahrnehmung) in Sussex und war an der Leitung der Studie beteiligt. Sie sagte: „Was wirklich interessant an dieser Untersuchung ist: Sie zeigt, dass Pferde die Fähigkeit haben, Emotionen über die Speziesbarriere hinweg zu lesen. Wir wussten schon seit langem, dass Pferde sozial hoch entwickelt sind, aber dies ist das erste Mal, dass wir sehen, wie sie zwischen positiven und negativen menschlichen Gesichtsausdrücken unterscheiden können.“ Man fand heraus, dass viele Spezies negative Ereignisse mit ihrem linken Auge beobachten. Informationen vom linken Auge werden in der rechten Hemisphäre des Gehirns verarbeitet und diese ist besonders darauf spezialisiert, bedrohliche Informationen zu verarbeiten. (Quelle: grenzwissenschaft aktuell)
Diese
Studie ist meines Erachtens nur ein kleiner Baustein auf dem Weg der
Wissenschaft, die Interaktion von Tieren – in diesem Fall mit dem
Pferd – mit Menschen zu erklären. Ob es der Wissenschaft jemals zu
hundert Prozent gelingen wird... ich wage es zu bezweifeln. Die
soziale Kompetenz von Pferden ist allerdings unbestritten. Und dass
sie diese soziale Kompetenz nicht nur untereinander, sondern auch
innerhalb der Partnerschaft mit dem Menschen anwenden, müsste jedem
verantwortungsvollen Pferdebesitzer doch täglich klar sein.
Das Urgestein der deutschen Verhaltensforschung, Professor Klaus Zeeb, erklärte mir bei einer Veranstaltung vor etwa 20 Jahren im Institut Egon von Neindorff hingebungsvoll, dass Pferde uns Menschen viel besser verstünden als umgekehrt. Vor allem seien sie in der Lage, feinste Zeichen der Körpersprache zu interpretieren, deren der Mensch sich selbst gar nicht bewusst ist. Sie beobachteten „ihre“ Menschen sehr genau, „sie haben einen eingebauten Stimmungsmesser“, sagte Zeeb. Unsicherheit, Anspannung, Ärger, Wut oder sogar Desinteresse kann ein Pferd bei einem Menschen glasklar interpretieren – umso mehr, wenn der Mensch sich in einer engen Partnerschaft mit dem Pferd befindet.
Es liegt allein an uns Pferdebesitzern, unsere empfindsamen Partner mit derselben enormen sozialen Kompetenz bei Laune zu halten, über die sie selbst verfügen. Ausreden? Abgelehnt.
Zitat:Niemand versteht sich wie er darauf, das Feuer zu unterhalten. (…) Das Resultat ist Anmut und ein Schauspiel der Schönheit, bei welchem das Pferd nicht den Eindruck eines Lebenwesens macht, welches sich aufgegeben hat (…), sondern bei welchem wir, wenn wir sein Auge beobachten, sehen können, wie es auf den Reiter im Eifer der Mitarbeit achtet. ‚Was will er?‘, scheint es zu sagen. Dies ist der ganze Unterschied zwischen ‚hingearbeiteter‘ Reiterei und jener anderen, der wahren. Jener, der das liebevolle Zusammenspiel der Einheit Reiter/Pferd entwächst.
(Antoine Decoux in seinem Vorwort zu Nuno Oliveiras Klassische Grundsätze der Kunst Pferde auszubilden, Olms)Presse 1996)
Vom Klemmen, dem Zitronenkern und der Pferdehaltung
Von Kathrin Brunner-Schwer
„Wenn man zu Pferd nicht spürt, ob es an diesem Tag entspannter oder steifer ist, wenn man nicht weiß, woher diese Steifheit kommt, wird das Reiten nicht als Kunst ausgeübt. Es hat keinerlei Zweck, ein Pferd zu dieser oder jener Bewegung zu zwingen. Völlig wertlos“.So schreibt Nuno Oliveira in „Erinnerungen eines portugiesischen Reiters“ (Olms Presse 2000). Kurz: Wenn's klemmt, ist der Mensch schuld.
Verspannungen beim Pferd sind in der Regel hausgemacht. Sie sind das Resultat verschiedener Faktoren, die allein der Mensch zu verantworten hat: Falsche Hilfengebung, falscher Sitz, miese Haltungsbedingungen und so weiter. Doch bevor man darüber nachdenken muss, steht über allem die Frage: Ist mein Pferd gesund? Will heißen: Ist physiologisch alles in Ordnung? Sind die Zähne in Ordnung? Hat mein Pferd irgendwo eine Blockade? Passt der Sattel? Ist das verwendete Gebiß und die Zäumung geeignet? Ist die Muskulatur ausreichend mit Spurenelementen versorgt? Ist der Beschlag beziehungsweise sind die ausgeschnittenen Hufe in Ordnung? Und dann die nächste Frage: Ist bei mir alles in Ordnung? Habe ich womöglich eine Fehlstellung? Einen blockierten Wirbel oder eine verkrampfte Muskelpartie in den Schultern zum Beispiel oder im Bereich der Lende?
Denn bevor das alles nicht eindeutig geklärt ist, brauchen wir nicht einmal ansatzmäßig darüber nachzudenken, warum mein Pferd „klemmt“.
Verspannung beim Pferd bis hin zu dem Gefühl des Reiters, er säße auf einem Pulverfass und könne jeden Moment die Kontrolle über sein Pferd verlieren, ist meistens ein Ausdruck von Stress, Angst, Unbehagen. In der Natur reagiert das Pferd mit Flucht. Dabei werden große Mengen Adrenalin und andere Hormone ausgeschüttet. Die Leistung, die das Pferd dabei zeigt, ist enorm, immerhin will es sein Leben retten. Ein Reiter kann dieser Situation etwas entgegen setzen und den ungeheuren Anstieg von Energie kanalisieren – mit Entspannungsübungen, die Konzentration und Balance (auch die innere) zurückbringen und fördern.
Reiterlich sind Verspannungen immer über den Schwung lösbar. Vorausgesetzt, das Pferd ist gerade. Denn ohne ein gerades Pferd gibt es keinen Schwung. Und ohne Schwung kein gerades Pferd. Schwung ist das Fundament, auf dem alles aufbaut, er kommt aus der Hinterhand: Wenn die Tritte kraftvoller werden, können die Hinterbeine vermehrt Gewichtaufnehmen; die Schubkraft erhöht sich, das Pferd kann sich leichter ausbalancieren. Die Energie, die das Pferd durch einen erhöhten Schwung entwickelt, macht alles einfacher: Sie führt zu mehr Spannkraft und zwar sowohl im Schritt als auch im Trab und im Galopp. Diese Energie hilft, das Pferd gerade zu richten, sie löst Verspannungen im Pferdekörper und wirkt sich positiv auf Verhaltensprobleme aus. Denn ein schöner Schwung und der damit verbundene Energiefluss ist angenehm für das Pferd. Es beruhigt sich und bekommt Freude an der Bewegung.
Schwung heißt aber nicht Geschwindigkeit. Hier liegt oft der große Fehler. Vermehrt zu treiben um mehr Schwung zu bekommen bewirkt das Gegenteil: Die Tritte werden flacher, das Pferd wird steif, „klemmt“ noch mehr, es strampelt, fällt auf die Vorhand und wechselt im schlimmsten Fall in die nächst höhere Gangart, aus der es dann wieder herunter gebremst werden muss – ein Teufelskreis.
Hier kommt die Kadenz ins Spiel, sie reguliert den Schwung. Sie ist der mit Energie geladene, kraftvolle Takt, der dem Pferd Ausdruck verleiht und die Schwebephasen beeinflusst. Ein Pferd mit einer guten Kadenz wird bei der Aufforderung, mehr Schwung zu zeigen, nicht schneller werden. Deshalb gehören Schwung und Kadenz zusammen. Die Hilfen sollten nur Impulse sein: Ein Impuls, auf den der Einsatz des Pferdes folgt. Das Pferd ständig mit Hilfen „zuzuquatschen“ bewirkt, dass es nicht mehr auf seinen Reiter hört. Und das geht schneller, als es einem lieb ist. Je besser ein Pferd auf die Hilfen reagiert, umso größer wird sein Schwung. „Wenn Sie fühlen, dass Ihr Pferd energielos tritt, fragen Sie mit einem kurzen Schenkelimpuls nach zwei oder drei Tritten vermehrter Energie – um es dann sofort mit dem Sitz und nicht mit den Zügeln (!) abzubremsen“, sagt Luis Valença, Portugals großer Reitmeister. Anders erklärt: Man braucht nur zwei oder drei Schritte im selben Gang, im selben Rhythmus, Tempo und Richtung, um die verlorene Energie wieder herzustellen.
Probieren Sie es aus, wenn Ihr Pferd mal wieder „klemmig“ erscheint, sich auf die Zügel legt oder den Rücken durch drückt. Fragen Sie nach zwei oder drei Schritten vermehrter Energie. Sie werden merken, wie Ihr Pferd darüber denkt; denn Sie bereiten ihm Freude an der eigenen Bewegung.
Was aber nützen die besten Tipps, Tricks und Übungen einem Pferd, wenn der Reiter nicht merkt, wo es „hakt“? Und vor allem, warum es „hakt“? Nichts. „Wenn die Beine angespannt sind und die Flanken des Pferdes umklammern, unterdrücken sie die Schwungkraft, anstatt sie zu vermitteln“, schreibt Nuno Oliveira. Klammernde Beine verspannen außerdem Rücken und Taille des Reiters. Das Pferd verhält sich entweder noch mehr oder es reagiert wie der Zitronenkern: Wenn man mit dem Finger Druck auf den glitschigen Kern ausübt, schießt er in irgendeine Richtung davon.„Entspannter Reiter – entspanntes Pferd“ wäre also die Idealformel. Leider ist es nicht so einfach. Und damit komme ich zu einem Umstand, der in meinen Augen den größten Anteil hat am Zerrbild des verspannten, „klemmigen“ Pferdes: die Pferdehaltung. Es ist Ende März hier in Südwestdeutschland und vor einigen Tagen fuhr ich auf Bitte einer älteren Dame, die mich um Hilfe bei ihrem P.R.E.-Wallach gebeten hatte, zu einem mir bislang unbekannten Stall. Der Besitzer: ein ehemals renommierter Springreiter der lokalen Szene. Ich betrete die lange Stallgasse und sehe Depression pur: In voll vergitterten Boxen drei auf drei Meter ohne Fenster stehen etwa 20 Pferde, bei 19 Grad Außentemperatur (!) teilweise eingedeckt. Zwei Pferde webten, zwei schliffen ihre Zähne unablässig an den Gittern hoch und runter, eines bleckte mit angelegten Ohren nach jedem, der an ihm vorbei ging, der Rest dämmerte stumpf vor sich hin. Draußen streckten sich die Koppeln, soweit das Auge reicht. Nur: es war Ende März, und die Koppeln waren noch nicht „geöffnet“. Nicht so schlimm, wurde mir gesagt, jedes Pferd komme in der Winterzeit täglich 20 Minuten in die Führmaschine. Winterkoppeln? Geht nicht, ist zu viel Arbeit, wurde mir gesagt.
Eine Menge Studien und Untersuchungen haben mittlerweile belegt, dass ein frei laufendes Pferd (wenn es die Möglichkeit hat), gut 30 Kilometer am Tag zurück legt. Ein Pferd in der Box dagegen bringt es in der Regel gerade mal auf 185 Meter pro Tag. Unter diesen Bedingungen verlangen wir von unseren Pferden, bloß nicht zu „klemmen“? Weil es besser ins Zeitmanagement passt? Weil man das Pferd nicht zeitraubend von der Koppel holen und putzen muss? Woher bitte, so frage ich mich, nehmen wir diese Anmaßung? Weil wir unseren Pferden ja diese eine Stunde Bewegung/“Arbeit“ am Tag ohnehin gönnen? „Kontrollierte Bewegung kann freie Bewegung nicht vollständig ersetzen“ schreibt das Konsortium der Tierärztlichen Vereinigung in seinem Positionspapier zu den Leitlinien „Tierschutz im Pferdesport“ (siehe unten).
In unserem industrialisierten Umfeld können wir unsere Pferde nicht artgerecht halten. Aber wir können ihnen das Leben zumindest etwas bedarfsgerechter gestalten. Sicher, es findet mittlerweile ein Umdenken statt und ich sehe mehr und mehr Ställe, in denen die Pferde wenigstens ein Paddock bekommen und es auch (allerdings viel zu selten) mal „Winterkoppeln“ gibt. Es ist aber immer noch die Ausnahme von der Regel. Eine Regel, hinter der sich im Übrigen auch viele Stallbesitzer verstecken. „Das haben wir schon immer so gemacht“, heißt es. Doch „das schon immer“ ist Tierquälerei. Es ist tierschutzrelevant. Eine solche Pferdehaltung hat in unserer heutigen Zeit nichts mehr zu suchen. Punkt.
Unter naturnahen Bedingungen bewegen sich Pferde im
Sozialverband bis zu 16 Stunden täglich. Dabei handelt
es sich überwiegend um langsame Bewegung (Schritt)
verbunden mit Futteraufnahme. Pferde haben somit einen
Bedarf an täglich mehrstündiger Bewegung. Mangelnde
Bewegung kann ebenso wie eine unsachgemäße
Beanspruchung
bei der Nutzung die Ursache für
Verhaltensstörungen sein und bedingt Schäden, insbesondere
am
Bewegungsapparat. Kontrollierte Bewegung
(Arbeit, Training)
beinhaltet nicht die gleichen
Bewegungsabläufe wie die freie
Bewegung,
bei der die Fortbewegung im entspannten Schritt überwiegt
aber auch überschüssige Energie und Verspannungen
abgebaut werden
können. Daher kann kontrollierte Bewegung
die freie Bewegung nicht
vollständig ersetzen.
Allen Pferden muss daher sooft wie möglich
Weidegang
und/oder Auslauf angeboten werden.
Aus dem Positionspapier zu den „Leitlinien Tierschutz im Pferdesport“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, verfasst von der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz, Arbeitskreis 11 – Pferde, Stand 1.11.2014
Interview mit Luis Valença von Kathrin Brunner-Schwer
(Foto: Archiv Valença)
Kann ein Pferd so etwas wie ein „Partner“ für den Menschen sein?
Ganz sicher. Es ist ja eine Tatsache, dass das Pferd in der Entwicklung des Menschen eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle spielte. Es trug zum wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt bei. Wer weiß wo die Menschheit heute wäre, wenn es das Pferd nicht gegeben hätte?
Kann ein Pferd einen Menschen „lieben“? Beziehungsweise kann ein Mensch durch bestimmte Verhaltensweisen eine emotionale Bindung des Pferdes zu sich verursachen? Und welche Rolle spielt die Dominanz dabei?
Ich bin kein Verfechter der Dominanz. Eine wirkliche Beziehung funktioniert nur mit Vertrauen. Und ob ein Pferd seinen Menschen lieben kann ist eine Frage, die ich auch heute noch nicht beantworten kann. Aber ich kann eine Geschichte über einen 60-jährigen Mann und eines meiner Pferde dazu erzählen:
Es war vor fünf Jahren. Als Folge eines schweren Verkehrsunfalls war dieser Mann an den Rollstuhl gefesselt. Er verließ sein Haus in Lissabon nicht mehr, hatte jedes Interesse am Leben verloren und litt lange unter sehr schweren Depressionen. Nichts half ihm. Eines Tages lief jemand mit einem Pferd an seinem Haus vorbei und seine Familie bemerkte, wie er mit seinem Rollstuhl ans Fenster fuhr, um dem Pferd nachzuschauen. Da hatte sein behandelnder Arzt die Idee, ihn zu mir auf meine Reitanlage zu bringen. Der Mann hatte vorher in seinem Leben noch nie etwas mit Pferden zu tun gehabt. Ich hatte (und habe ihn immer noch) einen Lusitanohengst, der chronisch lahmte - warum, wußte niemand. An dieses Pferd hängte der Mann im Rollstuhl sofort sein ganzes Herz, noch bevor er wußte, dass das Pferd auch gehandicapt war. Und wie es schien, war diese Liebe gegenseitig. Seit jenem Tag kommt dieser Mann beinahe täglich auf meine Reitanlage und beschäftigt sich mit dem Pferd. Nach einem Jahr konnte der Mann seinen Rollstuhl verlassen, er kann wieder laufen, ohne irgendwelche Therapien. Auch dem Pferd geht es bedeutend besser.
Ich kann mir nicht erklären, warum das alles so passierte. Waren es Energien, die beide austauschten? Ich weiß es nicht. Aber ist das nicht auch ein Beweis dafür, dass die Beziehung Mensch/Pferd beidseitig verläuft? Ich könnte übrigens noch mehr solcher Geschichten erzählen.
Können Pferde so etwas wie Spaß oder Freude haben bei der Arbeit mit dem Menschen?
Der größte Teil unserer Pferde lebt heutzutage 24 Stunden in Boxen. Deshalb ist es unsere Pflicht, ohne Wenn und Aber, den Bedürfnissen des Pferdes, wenn wir es zur Arbeit aus der Box holen, entgegen zu kommen. Das beinhaltet nicht nur pferdegerechtes Reiten und natürlich Koppelgang, sondern ebenso die Möglichkeit, dass das Pferd auch Pferd sein darf - nennen wir es korrekte Umgangsformen. Dazu gehört, dass sich das Pferd entweder frei in der Halle oder an der langen Longe kurz austoben darf bevor es geritten wird. Und dass es nach der Arbeit noch einmal in der Halle frei laufen und sich wälzen darf. Das Pferd wird sich immer daran erinnern und Freude haben.
Dazu eine Geschichte: Vor einigen Jahren verkauften wir Achado, einen 22-jährigen Lusitanohengst, den meine Tochter Luisa viele Jahre geritten hatte, an einen freundlichen älteren Herrn aus Italien. Er hatte Achado bereits fünf Jahre, als er mich völlig verzweifelt anrief. Er käme überhaupt nicht mit dem Pferd zurecht. Jetzt, nach fünf Jahren Geduld, überlege er, ob er ihn nicht kastrieren läßt. Ich sagte "warten Sie!" und flog mit meiner Tochter zusammen nach Mailand. Als der Herr das Pferd in die Reithalle brachte, führte sich Achado auf wie ein Berserker: Er stieg und warf sich ununterbrochen herum. Meine Tochter Luisa, vielen übrigens als "Bi" bekannt, stieg auf. Und im selben Moment verwandelte sich Achado. Er ließ sich von Bi ganz wunderbar arbeiten, vollkommen problemlos - vor lauter Rührung mussten wir drei weinen. Und unser italienischer Freund schluchzte: "Jetzt sehe ich: es ist der Reiter und die richtige Kommunikation, die alles ausmachen!" Nun, Achado kam wieder zu uns nach Portugal zurück. Der Pferdetransport erreichte Vila Franca um 1 Uhr früh und wir ließen Achado erst einmal in die Halle, damit er sich frei austoben konnte. Bi hatte für ihn seine alte Box hergerichtet, die mit der Nr. 24. Und als Achado fertig getobt hatte, sagte Bi zu mir "Papa, lass ihn, nimm ihn nicht an den Strick!". Sie öffnete die Hallentür ... und Achado marschierte geradewegs ohne auf die anderen Hengste in ihren Boxen zu achten in seine Box mit der Nr. 24...
Der Umgang mit Pferden unter Gesichtspunkten des „Natural Horsemanship“ ist ein riesiger Trend. Wenn etwas „natural“ ist, verkauft es sich. Wie beurteilst Du diese Richtung?
Ich respektiere jeden, der mit Pferden arbeitet. Nur sollte dabei das wirkliche, wahre "Verstehen" des Pferdes immer im Vordergrund stehen: die Reaktion des Pferdes, warum es so reagiert wie es reagiert. Und was es uns damit sagen will.